Hat der Nato-Gipfel in Madrid Erdoğans Einlenken auf Kosten von Griechenland erreicht? Viele Hinweise sprechen dafür. Die Konfrontationspolitik der aussenpolitisch gestärkten Türkei löst in Hellas Verunsicherung aus.
An der Oberfläche schien alles wie immer. Die Souvlaki in Athen sind wieder etwas teurer, der Mond scheint wunderbar und die Sonne lässt Vorfreude aufkommen auf Ferien auf der Insel. Und doch ist nichts, wie es einmal war. Die Verunsicherung ist mit Händen zu greifen. Auf der Insel angekommen, hören wir, dass diese eben von türkischen Kampfflugzeugen im Tiefflug überflogen worden sei, hart verfolgt von griechischen Jets, die diese abdrängten. Die Besucher der Strandbar haben die Szene beobachtet. Bemerkenswert an der Sache ist, dass diese Insel an sich nicht im Fokus von Erdoğan ist und auch nicht unmittelbar vor der kleinasiatischen Küste liegt. Eine klare Grenzverletzung, etwas, das irgendwo in Griechenland fast täglich geschieht.
Auf den Inseln, die sich dem Tourismus aus dem Ausland verschrieben haben, ist es voll, und es geht die Post ab. Nicht so dort, wo der griechische Binnentourismus stattfindet, wie auf unserer Insel. Es herrscht nicht gerade gähnende Leere, aber nach Juli sieht es nicht aus. Es sind nicht nur die Folgen der Pandemie, es sind nicht nur die Energiekrise und die Inflation, die diesen Sommer prägen, es ist auch die Konfrontationspolitik der aussenpolitisch gestärkten Türkei, die Verunsicherung auslöst.
Was wurde in Madrid vereinbart?
Als Schweden und Finnland die Absicht bekundeten, der Nordatlantikallianz beizutreten, legte die Türkei das Veto ein und verlangte Entgegenkommen bei der Politik dieser beiden Länder insbesondere gegenüber Kurden sowie bei der Rüstung. Der Nato-Gipfel von Madrid markiert den Positionswechsel der Türkei in der Frage des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands. Die Frage stellt sich, was konkret vereinbart wurde und auf wessen Kosten der Positionswechsel geschah.
Die griechische Regierung behauptete sofort, die Einigung mit der Türkei berühre griechische Interessen nicht. Worauf sich diese Einschätzung stützt, wurde nicht gesagt. Wie immer seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Mitsotakis stützt Griechenland die US-Position.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg tat so, wie wenn die Aufnahme der beiden skandinavischen Länder beschlossene Sache sei. Beobachter folgerten, die Türkei habe nachgegeben.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte aber deutlich, Schweden und Finnland müssten die getroffenen Abmachungen umsetzen. Andernfalls würde sein Land den Beitritt der beiden Länder nicht ratifizieren.
Das bedeutet zwei Dinge: Der Nato-Beitritt von Schweden und Finnland ist erstens noch nicht beschlossene Sache, und um diesen zu bewerkstelligen, wurden zweitens Vereinbarungen getroffen, bei deren Erfüllung die Türkei erwägt, vom Vetorecht nicht mehr Gebrauch zu machen. Diese sind an sich bekannt, aber die Medien vermeiden es, detailliert darüber zu berichten. Überhaupt ist der Gipfel von Madrid und der Aufnahmeantrag von Schweden und Finnland aus den Schlagzeilen verschwunden. Welche Vereinbarungen sind das, wie kann man diese bewerten und welche Auswirkungen haben diese auf Griechenland?
In Madrid wurde in der Tat ein trilaterales Memorandum unterzeichnet, und zwar zwischen Schweden, Finnland und der Türkei. Darin bestätigen die beiden Beitrittskandidaten, dass sie der Türkei ohne Voraussetzungen und Einschränkungen Waffensysteme verkaufen würden. Obwohl beide Länder eine lange Tradition im Schutz der Menschenrechte haben, erklärten sie sich zudem bereit, ihre Gesetzgebung gegenüber den Kurden zu ändern. Konkret: Der Text des Abkommens zwischen den drei Ländern besagt, dass Schweden und Finnland die Unterstützung der kurdischen Organisationen in Syrien (YPG/PYD) sowie der als FETO bezeichneten türkischen Bewegung des exilierten Imams Fethullah Gülen einstellen werden. Zusätzlich schafft das Abklommen die Möglichkeit, von der Türkei des Terrorismus Verdächtigte auszuliefern. Es wird allerdings ausdrücklich betont, dass solche Auslieferungen an die Einhaltung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens gebunden seien.
Ausserdem kündigte US-Präsident Biden an, dass Washington die Rüstungssanktionen gegen die Türkei aufheben würde. Nachdem das Land das russische S-400 Boden-Luft-System angeschafft hatte, flog das Land aus dem F-35-Kaufprogramm. Die Überholung türkischer Kampfjets des Typs F-16 kam ebenfalls nicht zustande.
Schliesslich versprachen die USA dem türkischen Präsidenten einen Empfang bei Präsident Biden. Dass der griechische Ministerpräsident im Weissen Haus empfangen wurde, er aber nicht, scheint dem türkischen Präsidenten immer noch ein Dorn im Auge zu sein.
Konsternation unter Kurden in Schweden
Schweden und Finnland sind politisch und institutionell reife Länder. Daher kann niemand vorhersagen, ob die Verpflichtungen gegenüber der Türkei innenpolitisch reibungslos akzeptiert werden. Aus diesem Grund behält Ankara die Waffe eines möglichen neuen Vetos in der Hand.
Insbesondere in Schweden ist eine grosse kurdische Gemeinde zu Hause. Der Deal von Madrid hat diese Menschen schockiert und verunsichert. «Nie zuvor habe ich so viel Angst gespürt wie in den letzten Tagen nach Madrid», sagte die kurdischstämmige schwedische Parlamentarierin Amineh Kakabaveh. Auch die ehemalige schwedische Aussenministerin Lena Hjelm-Wallén kritisierte den Deal von Madrid: Wie konnte es geschehen, so die Politikerin, dass ihre Regierung sich mit «einem Autokraten wie Erdoğan zusammensetzt, um über die Prinzipien des schwedischen Rechtsstaats zu verhandeln»? Es ist somit bedenklich, was die Regierungen von Finnland und Schweden im Gegenzug für die Zustimmung der Türkei zu ihrer Nato-Mitgliedschaft zu geben bereit waren. Es wäre eine 180-Grad-Wende in der Menschenrechts- und Rüstungsexportpolitik der beiden Länder – und es bleibt abzuwarten, ob sich das innenpolitisch ohne weiteres durchsetzen lässt.
Natürlich wies Biden Erdoğan darauf hin, dass der Antrag auf Aufhebung der Rüstungssanktionen gegen die Türkei vom Kongress genehmigt werden muss, was keineswegs sicher sei. Er erklärte auch, dass jede türkische Aktion, die zu Instabilität in der Ägäis führen würde, es noch schwieriger machen würde, den türkischen Antrag durchzusetzen.
Welche Schlussfolgerungen zieht Erdoğan?
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte beschlossen, in Madrid eine Runde zu pokern. Und er hat fürs Erste gewonnen. Er traf den Westen zu einem Zeitpunkt, an dem dieser ihn wegen des Krieges in der Ukraine brauchte. So übte Erdoğan denn allen möglichen Druck aus. Für sein heimisches Publikum wollte er das Treffen mit Biden und das grüne Licht für die F-16. In der Praxis bleibt jedoch abzuwarten, ob diese Trophäen binnen einiger Monate eingelöst werden können. Wie die Korrespondentin der griechischen Zeitung «Kathimerini» in Washington, Lena Argyri, berichtet, erwägen die Mitglieder des Kongresses bereits ernsthaft, die Genehmigung des türkischen Antrags an Bedingungen zu knüpfen, die den Einsatz von F-16 für Überflüge oder andere aggressive Aktionen gegen Griechenland verhindern.
Eine entscheidende Frage ist, welche Schlussfolgerungen Erdoğan aus den Ergebnissen von Madrid zieht. Das positive Szenario besagt, dass er mit den – vor allem politischen – Vorteilen, die er sich gesichert hat, zufrieden ist und bis zu den Wahlen in Bezug auf Griechenland und Zypern Ruhe bewahren wird. Das schlechte Szenario besagt, dass er den Eindruck gewonnen hat, dass er für den Westen strategisch notwendig sei und dass er mit geringem Aufwand machen könne, was er will. Die Zeit wird zeigen, welches Szenario sich bewahrheitet.
Wenn man sich die ständigen Grenzverletzungen vor Augen führt und die Tatsache, dass der Westen diesen gleichgültig gegenübersteht, wenn man weiss, dass jüngst Erdoğans Koalitionspartner offen grosse Grenzverschiebungen in der Ägäis gefordert hat, dann muss man befürchten, dass die Nato in Madrid nicht nur die Kurden geopfert hat, die immerhin den fanatischen Dschihadisten des islamistischen Staates IS die Stirn geboten hatten, sondern dass die Vereinbarung auch zu Lasten von Griechenland geht. Kein Wunder, dass die Nato in Hellas unbeliebt ist und dass kaum jemand daran glaubt, dass dieses Bündnis das Land im Kriegsfall gegen die Türkei verteidigen würde.