Seit der ungarische Pianist György Sebök dort vor 40 Jahren seinen ersten Meisterkurs abhielt, hat Musik ihren festen Platz in dem hoch über dem Rhone-Tal gelegenen Dorf und seiner innen in barockem Glanz erstrahlenden spätgotischen Kirche. 1987 gründete Sebök ein erstes Kammermusikfestival. 13 Jahre leitete er es selbst.
Zahlenzauber
Heute steht es unter der Leitung des Intendanten Francesco Walter und ist längst mehr als ein Kammermusikfestival. Kammermusik steht zwar immer noch im Zentrum der Erner Musiktage, doch mittlerweile sind Klavier- und Barockwochen hinzugekommen. Meisterkurse für Klavier und Orgel, eine Biographie-Werkstatt mit der Zürcher Psychologie-Professorin Brigitte Boothe sowie ein Schreibseminar mit Krimiautorin Donna Leon ergänzen das reichhaltige Programm.
In diesem Jahr standen die Musikwochen in Ernen unter dem Motto „Zahlenzauber“. Den Auftakt machte das Kammermusik-Wochenende vom 6./7. Juli mit Werken von Schubert und Schostakowitsch. Es folgten vom 13. bis 19. Juli die Klavierwoche mit Rezitals von Hisako Kawamura, Da Sol, Alexei Volodin und Pietro de Maria, sodann vom 21. Juli bis 2. August die der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmeten Barockwochen und schliesslich ab dem 4. August die Kammer- und Orchesterkonzerte, die noch bis zum 17. August dauern und klassische mit zeitgenössischer Musik verbinden.
Kein Geheimtipp
Intendant Francesco Walter kann jetzt schon auf eine erfolgreiche Saison 2013 zurückblicken. Die Auslastung der Konzerte war gut bis sehr gut. Zu den Stammgästen, die die Tage in Ernen schon ein Jahr im voraus in ihre Agenda eintragen, kommen Jahr für Jahr neue Besucherinnen und Besucher hinzu. Positive Berichterstattung, Werbung in eigener Sache sowie Mund-zu-Mund-Propaganda sorgen dafür, dass das Festival zusehends an Bedeutung gewinnt. Ein Geheimtipp ist es längst nicht mehr.
Und doch hat es noch immer etwas Intimes, etwas Familiäres. Man kennt sich, man trifft sich, man weiss, was einen erwartet, wenn man etwas ausserhalb von Fiesch abbiegt und über eine kurvenreiche Strasse der wie auf einem Balkon über dem Tal gelegenen St. Georgskirche entgegen fährt. Ernen ist eines der schönsten und besterhaltenen Oberwalliser Dörfer. Seine Häuser sind stattlicher als anderswo, seine Gärten bunter, und wenn es auf Anfang Juli zugeht, dann ist es, als ob das Dorf anfinge zu klingen.
Der Duft der mächtigen Linde
Für einige Wochen im Jahr sind die Musik und das Dorf eins. Auch wer ausschliesslich der Konzerte wegen nach Ernen kommt, kann sich der Magie des Ortes nicht entziehen. Überall sind Künstlerinnen und Künstler einquartiert, aus allen Häusern hört man es spielen, und in der Kirche wird am Nachmittag bereits für den Abend geprobt. Das muss man erlebt haben und wird es nicht mehr vergessen. Und nicht vergessen auch diesen Moment, wenn man, die Musik noch im Ohr, in der Pause oder nach dem Konzert aus dem Portal der Kirche tritt und vom Friedhof aus weit in das vom letzten Licht des Tages beschienene Tal hinunter schaut, den Duft der mächtigen Linde neben der Kirche einatmet und dabei jenes Glück verspürt, wie nur Musik und Naturschönheit es zu vermitteln vermögen.
Im Bann dieser Stimmung stehen ganz offensichtlich auch die Musikerinnen und Musiker, die Jahr für Jahr nach Ernen kommen, um hier gemeinsam zu musizieren: Thomas Demenga und Xenia Jankovic, die für die Kammermusik zeichnen, Ada Pesch und Deirdre Dowling, die für die Barockwochen verantwortlich sind, und Francesco Walter selber, dem die Programmierung der Klavierwoche obliegt. Sie bilden zusammen mit Solisten und Ensemble-Mitgliedern eine eingeschworene Gemeinschaft, deren ausgewiesene Kennerschaft und Liebe zur Musik sich auf das Publikum überträgt.
Bitterer Verzicht auf Monteverdi und Pergolesi
Viele Besucherinnen und Besucher buchen jeweils eine ganze Woche und verbinden den abendlichen Musikgenuss tagsüber mit Wanderungen durch die Walliser Bergwelt. Andere kommen für ausgesuchte Konzerte oder entschliessen sich nach einem Besuch in Ernen spontan dazu, abends noch ein Konzert zu besuchen. Wenn sie Glück haben, kriegen sie vom Intendanten, der Abend für Abend im Konzertbüro steht, auch noch eine Karte.
An den beiden Abenden, die wir in diesem Jahr besuchten, dem 21. Juli und dem 2. August, standen Werke von Bach, Händel und Vivaldi sowie von unbekannteren italienischen Barockkomponisten auf dem Programm. In besonderer Erinnerung geblieben sind die Soli der Harfenistin Siobhán Armstrong, des Lautenisten Mike Fentross und des Cembalisten Johannes Maria Bogner sowie eine eigens für Ernen arrangierte „Suite imaginaire d-Moll“ von Johann Sebastian Bach, die jedem der acht Ensemble-Mitglieder die Gelegenheit bot, sich und sein Instrument in einer Bachschen Komposition in d-Moll zu präsentieren. Dass die Walliser Sopranistin Rahel Harnisch am Abend des 2. August krankheitshalber ausfiel und wir deshalb auf Monteverdi und Pergolesi verzichten mussten, war bitter, aber leider unvermeidlich.
Gespannte Vorfreude
Bleibt die Vorfreude auf nächstes Jahr und die Konzertsaison 2014. Sie steht unter dem Motto „Liebe und Macht“, beginnt mit „Kammermusik kompakt“ am 5./6. Juli und setzt sich wie folgt fort: Klavierwoche vom 12. bis 18. Juli, Barockwoche vom 20. bis 31. Juli und „Kammermusik plus“ vom 3. bis 15. August. Ebenfalls fest eingeplant ist die Biographie-Werkstatt mit Brigitte Boothe (11. bis 18.7.) sowie das Schreibseminar mit Donna Leon und Judith Flanders (19. bis 25.7.).
Und bereits jetzt kann Frencesco Walter mit ersten Highlights aufwarten: Während der Barockwochen wird an zwei Abenden die Mezzosopranistin Ann Hallenberg zu hören sein, und Dennis Russell Davies, Chef-Dirigent in Basel und Generalmusik-Intendant in Linz, wird zusammen mit Maki Namekawa die „Zauberflöte“ von Mozart spielen – in einer Fassung für Klavier zu vier Händen von Alexander von Zemlinsky. Auf weitere musikalische Entdeckungen darf man gespannt sein.