Viele frohlockten gar. „Die Chemie stimmt“ zwischen Präsident Obama und Parteichef Xi Jinping, hiess es etwa. Und daraus könnte in Form und Substanz mehr werden. Mit Vorbehalt.
Schon einmal übertrumpften sich amerikanische und europäische Polit-Experten, Zeitungs-Kommentatoren, China-Korrespondenten und assortierte Pundits aus Wissenschaft und Denkfabriken in ihren Lobhudeleien. Sie lobten im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges den grossen Revolutionär und Reform-Übervater Deng Xiaoping über allen Klee. Sie plapperten die damals im Zeitgeist liegende Konvergenz-Theorie kritiklos nach und redeten sich und der Öffentlichkeit ein, dass mit wirtschaftlicher Reform fast automatisch auch politische Reform, d.h. westliche Mehr-Parteien-Demokratie einhergehe.
Nach drei Jahrzehnten der Mangel- und Schreckensherrschaft von Mao Dsedong traf Deng zwar damals den Nerv der ausgepowerten Massen mit griffigen Sprüchen wie „reich sein ist glorreich“ und „es spielt keine Rolle, ob die Katze weiss oder schwarz ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“. Damit hielt sich Deng in den 1980er-Jahren die links-maoistischen, antireformerischen Kräfte innerhalb der Partei vom Leibe. Die ökonomische Realität gab ihm recht. Deng ging die Reformen Schritt für Schritt an mit einem in der Weltgeschichte noch nie gesehenen Erfolg. Doch für Deng war immer klar, dass Mehr-Parteien-Demokratie keine Alternative zum Machtmonopol der Kommunistischen Partei sei.
Deng liess Proteste niederschlagen
Im Westen wurde übersehen, dass schon bei den ersten Studentenunruhen in Hefei (Provinz Anhui) im Dezember 1986 Deng die Order zur Auflösung der Demonstrationen gab. Es spielte sich alles noch relativ friedlich ab. Der damalige, von Deng handverlesene Parteichef Hu Yaobang jedoch musste über die Klinge springen. Er habe, so der Vorwurf aus der Parteizentrale, zu viel Verständnis für die aufmüpfige Jugend gezeigt. Zhao Ziyang, ebenfalls von Deng berufen, trat die Nachfolge an. Als dann 1989 nach dem Tode von Hu Yaobang vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Verwerfungen Studenten und Arbeiter in Peking zu Hunderttausenden auf die Strasse gingen und im Sinne des abgehalfterten Parteichefs und Idols gegen Korruption und mehr Offenheit demonstrierten, zögerte Deng keinen Augenblick.
Der Protest wurde Manu Militari niedergeschlagen. Hunderte starben. Parteichef Zhao verlor seinen Posten, weil auch er der Sache der Studenten und Arbeiter zu viel Entgegenkommen gezeigt habe. Im Westen war man bass erstaunt. Die neunmalklugen Experten wurden auf dem linken Deutungs-Fuss erwischt und gerieten in Erklärungsnotstand.
Unantastbares Monopol der Partei
Als die konservativen Reformer danach Oberhand erhielten, griff der mit allen politischen Wassern gewaschene Deng noch einmal ein. 1992 gab der damals 88-Jährige mit seiner den imperialen Kaisern nachempfundenen „Südreise“ der Wirtschaftsreform und Öffnung nach Aussen den entscheidenden Schwung zurück. Unter dem neuen Parteichef Jiang Zemin, auch er wie seine beiden Vorgänger von Reform-Übervater Deng sorgfältig ausgewählt, wuchs Chinas Wirtschaft in einem noch nie gesehenen Tempo. Die Gesellschaft veränderte sich. Wanderarbeiter und ein schnell wachsender Mittelstand gaben sozial den Ton an.
Vielerlei Rechte wurden nach und nach zugestanden. Das Internet und eine Bloggerszene von Hunderten von Millionen schaffte im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausend dem Ruf nach mehr Transparenz Nachachtung. Das Machtmonopol der Partei freilich, die stand niemals zur Debatte. Selbst über dieses Thema nachzudenken blieb tabu.
In der Substanz bleibt alles beim Alten
Ganz so kritiklos wie in den 1980er-Jahren sind heute die Kommentatoren im Westen nicht mehr. Dennoch, sehr oft stellen sie ganz einfach die falschen Fragen. So gingen beim Machtwechsel von Staats- und Parteichef Hu Jintao zu Xi Jinping viele in tiefgründigen Analysen der Frage nach, was denn der Neue politisch, wirtschaftlich und sozial Neues bringen werde. Dabei ging vergessen, dass auch der Neue stets in den langfristigen, bereits von Deng vorgezeichneten Reformprozess eingebunden ist. Natürlich setzte Xi gleich zu Beginn seiner auf zehn Jahr befristeten Amtszeit einige Akzente. Er gab sich, wie seine Vorgänger, eine Regierungs-Devise, jene nämlich vom „Chinesischen Traum“. Er gab sich auch lockerer und volksnah, liest nicht mehr jede Rede Wort für Wort vom Blatt und zeigt sich überraschend mit seiner – bereits als Sängerin landesweit berühmten – eleganten Frau. Die Form also hat sich gewandelt. In der Substanz jedoch bleibt vieles beim Alten.
Wenn nötig mit der Peitsche
Seit Mitte Mai läuft die Propaganda zum Beispiel im Sprachrohr der Partei „Volkszeitung“ („Renmin Ribao“) oder der „Tageszeitung der Volksbefreiungs-Armee“ auf Hochtouren. Vieles wird wieder wie einst zu Zeiten des Klassenkampfs als „bourgeois“ und „subversiv“ verdammt. Grundton: das Machtmonopol der Partei steht über der Verfassung.
Die Partei soll auch, so wird in Peking herumgeboten, ein Diskussions- und Denkverbot für folgende Tabu-Themen herausgegeben haben: Zivilgesellschaft, Bürgerrechte, Universelle Menschenrechte, Pressefreiheit, historische Fehler der Partei (Grosser Sprung nach vorn 1958-61 mit der grössten Hungersnot der Weltgeschichte sowie die Grosse Proletarische Kulturrevolution 1966-76) und Unabhängigkeit der Justiz. Ob nun Tatsache oder nur Vermutung, plausibel könnte es sein. Sowohl die eher Konservativen innerhalb der Partei, nicht selten auch als „Neo-Dengisten“ apostrophiert, als auch die eher progressiven Reformer wollen auch heute das KP-Machtmonopol mit allen Mitteln erhalten. Wie die tägliche Polit-Praxis zeigt mit viel Butterbrot beziehungsweise Klebereis und wenn nötig aber auch mit der Peitsche.
Kein Gorbatschow
So ist Staats- und Parteichef Xi Jinping bei aller am kalifornischen Gipfel mit Obama zur Schau gestellten Weltläufigkeit mitnichten – wie bereits blauäugig und naiv einige durchaus als seriös geltende westliche Beobachter träumen – der „Gorbatschow Chinas“.
Xi soll in der Südprovinz Guangdong in einer parteiinternen Rede über den Zusammenbruch der Sowjetunion reflektiert haben. Damals, so Xi, hätte die sowjetische Elite über zu wenig ideologisches Rückgrat, Überzeugung und persönlichen Mut verfügt. Dass Xi nicht Gorbatschow ist, kann mit Blick auf das nachsowjetische Russlands und auf die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien durchaus als Kompliment interpretiert werden. Nicht von ungefähr fordert denn auch Parteichef Xi von den 82 Millionen Parteimitgliedern nicht nur den „Chinesischen Traum“ sondern vor allem den „Kommunistischen Traum“ zu träumen.
Kapitalismus ja, Demokratie nein
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jingping ist also in einer langen sino-kommunistischen Tradition zu sehen. Es bleibt dabei: Kapitalismus ja, westliche Demokratie nein. Vorläufig heisst das auch: Die Partei hat immer Recht. Jenseits der Verfassung. Das bedeutet aber nicht, dass sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten die Volksrepublik sozial und politisch nicht weiter entwickeln würde. Im Gegenteil. Aber nach eigenem Rhythmus, in der Tradition der eigenen Geschichte. Schritt für Schritt. Oder wie sich Deng Xiaoping zum Gang der Reform ausgedrückt hat: „Den Fluss überqueren und dabei die Steine unter den Fusssohlen spüren“.