Selbst «Spiegel online» (der digitale Ableger des Hamburger Magazins) schüttelt – bildlich gesprochen – fassungslos den Kopf. Da schickt doch der amerikanische Nachrichtensender «CNN» tatsächlich die Nachricht vom Rücktritt eines gewissen Lutz Bachmann aus dem sächsischen Dresden als Eilmeldung (breaking news) um den Erdball. Und auch der «New York Times» erscheint das Ereignis ausreichend gewichtig, um auf der Frontseite ihrer Europa-Ausgabe platziert zu werden. Noch vor vier oder fünf Wochen hätte man in den dortigen Redaktionen höchstens achselzuckend gesagt: «Wer zum Teufel ist Lutz Bachmann?» Warum also ist er jetzt eine internationale Erwähnung wert?
Eine schillernde Figur
Keine Frage, Bachmann ist eine schillernde Figur. Als er vor wenigen Monaten in der sächsischen Hauptstadt die «Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) auf die Strasse rief, folgte ihm zunächst nur ein kleines Grüppchen. Bis dahin war er höchstens der Polizei und Justiz ein Begriff – aufgefallen und verurteilt wegen Körperverletzung, Einbruchs und Diebstahls. Allerdings im Januar vorigen Jahres auch von der sächsischen Landesregierung ausgezeichnet als Helfer beim Elbehochwasser. Doch ungeachtet all dessen erhielt die Schar in kurzer Zeit geradezu sturzflutartig Zulauf. Zuletzt marschierten zwischen 20’000 und 30’000 Menschen durch die Stadt, die sich viel lieber als «Elb-Florenz» in den Schlagzeilen sähe.
Seither beschäftigt Pegida keineswegs nur in zunehmendem Masse die deutsche Öffentlichkeit. Politik, internationale Medien, Meinungsforscher, Soziologen und Psychologen rätseln entweder fassungslos über das Phänomen dieser «Bewegung», oder aber sie überschlagen sich mit – allerdings höchst kontroversen und auch widersprüchlichen – Erklärungsversuchen. Eines freilich scheint sicher: Ohne den mörderischen islamistischen Terroranschlag von Paris und das dadurch ausgelöste weltweite Entsetzen hätten es die Dresdener Aufmärsche und das Personalgeschehen an der Pegida-Spitze wohl niemals in die weltweiten Schlagzeilen geschafft.
Viele Fragen, wenig Antworten
Warum dieser Aufstand ausgerechnet jetzt? Weshalb findet er im Osten Deutschlands so viel Zustimmung, während er im Westen mehrheitlich auf Fassungslosigkeit stösst? Ist es tatsächlich gerechtfertigt, die Pegida-Initiatoren – vor allem jedoch die vielen tausend Demonstrierenden – einfach pauschal als politische Extremsten, ja Nazis, in die Rechtsaussen-Ecke zu stellen? Haben Politik und kritische Öffentlichkeit am Ende nicht bemerkt, was sich (zu Recht oder auch nur vermeintlich begründet) bei vielen Bürgern an Sorgen, Ängsten, Unbehagen und Zorn wegen der Entwicklung im Land angestaut hat?
Es war der politisch noch immer hellwache CDU-Methusalem Heiner Geissler, der vor wenigen Tagen als erster die bis dahin in den fast schon üblichen Beschimpfungs-Reflexen («Nazis im Nadelstreifen», «Ewiggestrige», «rechte Dumpfbacken») verhafteten Politiker aller Couleurs mahnte, sich nicht bloss auf die in der Tat mit organisierenden und marschierenden Rechtsaussen zu fokussieren, sondern die Klagen der Protestler-Mehrheit ernst zu nehmen.
Inzwischen scheint bei den politischen Eliten tatsächlich ein entsprechendes Umdenken einzusetzen. Und zwar, wenn man die jüngsten Äusserungen von SPD-Chef Sigmar Gabriel richtig deutet, bis in die Reihen der Sozialdemokraten hinein. Innerhalb der CDU/CSU war ohnehin schon die Sorge zu verspüren, dass die Dresdener Protestbewegung und deren Ableger in anderen Orten zu grossen Teilen aus dem konservativen Lager kommen könnten. Dem ist ganz bestimmt so. Früher galt hier die einst vom mächtigen CSU-Chef Franz Josef Strauss ausgegebene Losung: «Rechts von uns darf sich keine demokratische Kraft entwickeln!» Diese Position ist von der Union im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre zunehmend aufgegeben worden. Unter der Führung von Angela Merkel ist sie in die «Mitte» gerückt – man kann auch sagen, konturlos geworden.
Wer fängt die «Heimatlosen» auf?
Was die Wahlergebnisse anbelangt, ist die CDU/CSU mit Merkel damit erfolgreich gewesen. Aber diese Zeit wird irgendwann einmal vorüber sein. Wer steht dann für die «klassischen» konservativen Werte? Bindung an die Kirchen, Begriffe wie «Vaterland», «Heimat» oder «Patriotismus», Familie als festigende Zelle der Gesellschaft – das alles kommt in der Agenda der Union praktisch nicht mehr vor. Es wurde inhaltlich über die Parteireling geworfen beim Bemühen, den Anschluss an die «Moderne» bloss nicht zu verpassen. Aber für viele Bürger sind das eben nicht nur hohle Worte, sondern besitzen für ihr Leben Bedeutung. Das ist gewiss konservativ. Aber nicht rechtsradikal. Wer wird diese Menschen politisch auffangen, wenn sie sich von den «Alt»-Parteien enttäuscht fühlen?
Ja, bei Pegida waren von Beginn an auch Rechtsextremisten, auch Neu-Nazis beteiligt. Unter den Mitmarschierern (besonders deutlich zu sehen und zu hören bei den Märschen des Leipziger «Ablegers» Legida) wurden unerträgliche menschenverachtende Sprüche vernommen, Plakate gezeigt und Tumulte verursacht. Wenn davon keine Trennung erfolgt, wird das ganze Theater wahrscheinlich sowieso bald in sich zusammenfallen. Ohnehin fallen viele Widersprüche ins Auge. Wie passt es zum Beispiel zusammen, dass sich eine Gesellschaft, die – wie in Sachsen – zu 80 Prozent ungetauft ist, zum Verteidiger des Christlichen Abendlandes aufwirft? Wie überzeugend ist es, die Gefahr einer «Überfremdung» wie ein Menetekel an die Wand zu malen, wo doch hier weniger als drei Prozent der Einwohner einen ausländischen Hintergrund haben?
Verwirrende Gemengelage
Selbst wer versucht, wirklich genau hinzuschauen, wird nur schwer einen Durchblick bekommen. So kommt bei den aktuellen Pegida-Demos die ursprünglich beschworene Islamisierungs-Abwehr kaum noch vor. Stattdessen hat sich ein allgemeiner Unmut über die Politik, deren angeblich fehlendes Handeln und die sich daraus ergebende Entwicklung in Deutschland Bahn gebrochen. Da werden die gewiss nicht immer unproblematischen Zuwanderer (z. B. Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien) vermengt mit dem Massenzustrom an Kriegsflüchtlingen. Da wird das eigene, vielleicht schwierige Leben aufgerechnet mit den staatlichen Sozialleistungen für Neuankömmlinge. Und man täusche sich nicht: Diese Gefühle und die sich daraus ergebenden Eruptionen gehen quer durch die Anhängerschaften aller Parteien.
Nun also hat Pegida mit Lutz Bachmann ihren Kopf verloren. Man kann sagen, er hat sich selbst die Maske abgenommen. Gerade noch schien es so, als versuchten er und seine bisherige Gefolgschaft nachweisen, dass sie von nichts anderem geleitet würden als von der Sorge um die Zukunft des Landes. Und dann stellt er Videos ins Internet, die ihn in Hitler-Pose zeigen und in denen er Flüchtlinge und Asylbewerber als «Viehzeug», «Dreckspack» und «Gelumpe» beschimpft. Das war wohl selbst seinen bisherigen Mitstreitern zu viel. Immerhin ermittelt die Dresdener Staatsanwaltschaft wegen Volksverhetzung.
Die Alternative für Deutschland steht bereit
Und was nun? Die neue Nummer eins der Bewegung, die bisherige Schatzmeisterin Kathrin Oertel, kündigte an, man werde weitermachen wie bisher. Offensichtlich haben Meldungen aus anderen Ländern wie Holland, Norwegen und Belgien Mut gemacht, weil dort angeblich ähnliche Protestgruppierungen gegründet worden sind. Andererseits schliessen Politikforscher auch nicht aus, dass sich Pegida relativ bald totlaufen könnte. Aber selbst wenn das geschähe, wären ja nicht die Sorgen, die Ängste und der Zorn der Menschen aus der Welt, wegen derer sie auf die Strasse gegangen sind. Tatsächlich scheint auch eine politische Kraft bereit zu stehen, um diese politisch heimatlos gewordenen Menschen aufzufangen: die Alternative für Deutschland, kurz AfD.
Die AfD war im September 2012 im hessischen Bad Homburg von einer Reihe prominenter Zeitgenossen – Hochschullehrer, Ex-Industriechefs, langjährigen CDU-Mitgliedern – als Bürgerinitiative gegen die EU-Finanzpolitik, ja gegen die Entwicklung in der Gemeinschaft überhaupt gegründet worden. Aber, ähnlich wie bei Pegida das Thema Anti-Islamisierung, ist bei der AfD der Sturmlauf gegen den Euro mit der Zeit in den Hintergrund getreten (auch wenn die jüngsten Beschlüsse der Europäischen und auch der Schweizer Zentralbank neues Feuer entfachen dürften). Zwei Jahre nach ihrer Gründung wagte die AfD den Sprung von der Bürgerinitiative zur Partei und erzielte sowohl bei der Europawahl als auch bei mehreren Landtagswahlen beachtliche Erfolge.
Kooperation in Sachsen
Was also läge näher als eine Kooperation zwischen diesen beiden Protestbewegungen? Tatsächlich ist dies wohl auch im Zusammenhang mit dem Rücktritt Bachmanns bereits geschehen – in einer Abstimmung zwischen Bachmanns bisheriger «Vize», Oertel, und der sächsischen Landes- sowie stellvertretenden AfD-Bundesvorsitzenden, Frauke Petry. Ob daraus wirklich ein Bündnis wird, kann noch niemand voraussagen. Sollte das aber geschehen, würde es die deutsche Parteienlandschaft ganz schön durcheinander wirbeln.
Das gilt in Sonderheit für Angela Merkel und die Union. Auch wenn sie sich im Moment noch in sehr guten Umfragezahlen sonnen können, so würde es für eine Alleinregierung dennoch nicht reichen. Auf die FDP kann Merkel nicht mehr zählen. Ob die SPD noch einmal als Juniorpartner bereitstünde, ist eher ungewiss. Und trotz verschiedentlicher Annäherungen sind auch die Grünen keine «Bank». Zur Zeit erteilen CDU und CSU den «Schmuddelkindern» von der AfD noch immer Absagen. Ob das noch lange Bestand haben wird?
Die ersten Risse in diesen Mauern sind inzwischen ja auch schon sichtbar geworden in der Folge des “Privatbesuchs” von SPD-Chef Gabriel bei einer Gruppe von Pegida-Anhängern. Mag er dafür auch innerhalb und ausserhalb seiner Partei Prügel bezogen haben, so hat er doch richtig gehandelt. Oder wollen die demokratischen Parteien etwa ganze Bevölkerungsgruppen ins politische Abseits driften lassen?