Es ist sehr lange her, seit der Achtjährige vom Zahnarzt nach Hause gekommen war, wohin ihn die mit den jüngeren Geschwistern mehr als genug beschäftigte Mutter alleine geschickt hatte. Der Zahnarzt hätte ihm, so berichtete er zuhause, während der Lachgas-Narkose nicht nur den einen schmerzenden Milchzahn, sondern gleich sieben weitere gezogen. Seine Zähne würden ohnehin tief und nahe beieinander im Kiefer stecken, so der Herr Doktor, da habe er dem Buben weitere Schwierigkeiten ersparen und gleich Platz für die nächste Zahnserie schaffen wollen.
Den kurzen Weg nach Hause hätte ich, so sagte später meine Mutter, recht munter geschafft und sei erst dann in Tränen ausgebrochen, als ich sie bei meiner Mitteilung erbleichen gesehen hätte. Vielleicht entstand damals, gleichsam um die erduldeten Schmerzen in ein Heldenepos zu verwandeln, die Saga von den kräftigen, kurzen und starken Walliser Zähnen, welche die einst im Talboden („Im Boden“) von St. Niklaus angesiedelte Walser Familie ins Berner Oberland und später nach St. Gallen, Zürich und Basel mitgenommen hatte. Da die Walser, die genügsamen und zähen Siedler der Alpen, nur alle paar Monate, ja an gewissen Orten nur einmal im Jahr Brot backten, bräuchten sie eben enorm starke Zähne, um nicht zu verhungern – so die Überlieferung.
Überlebenskünstler
Obschon meine Walser Gene wohl längst durch einen typischen Schweizer Mix verdrängt worden sind, meine ich bis heute, in mir die Walser (Zahn-)Wurzeln besonders stark zu spüren. Kein Wunder, dass mich die Geschichte der Walser schon in früher Jugend fasziniert hat, speziell die Frage, was gerade sie in den Alpen zu erfolgreichen Siedlern gemacht hatte.
Es gibt viele Bücher über die Walser. Beeindruckt hat mich „Unterwegs zu den Walsern“ von Max Waibel (1). Der Autor doziert nicht einfach vom Schreibtisch aus, sondern er hat selber viele der Routen erkundet, auf denen einst die Walser mit Frau, Kind und Vieh durch die Alpen zogen, nach Frankreich, Italien, Vorarlberg, Tirol und Bayern.
Sie müssen wahre Überlebenskünstler gewesen sein – sind es vielerorts bis heute – und einen ausgeprägten Sinn für sozialen Zusammenhalt und Tradition besessen haben. Auch für ihren besonderen deutschen Dialekt, gerade dort, wo sie über den Alpenkamm in welsches Gebiet vorstiessen nach Savoyen oder ins nördliche Piemont, ins Valle Formazza zum Beispiel, wo sich das heutige Italien weit nach Norden zwischen die Kantone Wallis und Tessin schiebt und das die Walser Pomatt nannten. Von dort zogen die Walser ab dem 12. Jahrhundert jeweils im Frühsommer mit Familie und Vieh ostwärts über die Guriner Furggu in ein von der lokalen Bevölkerung Bosco genanntes abgelegenes Hochtal des Maggiatals und im Herbst wieder zurück. Die dortigen Alpweiden pachteten sie von der Gemeinde Losone.
Streit um den Namen
Jemand hatte mir erzählt, wie im 13. Jahrhundert aus der Guriner Alpsiedlung ein ganzjährig bewohntes Dorf geworden war. Als die Walser einst infolge eines überraschend frühen Wintereinbruches die Heimkehr über die Furggu mit ihren Kühen und Kindern nicht mehr schafften, hätten sie ihre Sommerunterkünfte zu einem permanenten Winterquartier ausgebaut. Einige Familien seien fortan während des ganzen Jahres dort geblieben und hätten ein Dorf namens Gurin gegründet.
Im Jahre 1253 wurde Gurin laut Waibel erstmals in einer Urkunde erwähnt. Dies sei für den ganzen Alpenraum das älteste bekannte Dokument, das sich namentlich auf eine Walsersiedlung beziehe. Weil die Maggiataler an der Bezeichnung Bosco festhielten, entstand später wegen des Namens zwischen den lokalen Behörden und den Walsern Streit. Heute figuriert das Dorf auf der Schweizer Karte diplomatisch als Bosco/Gurin.
Meiner Faszination zum Trotz blieb Bosco/Gurin für mich während vieler Jahre ein unbekannter, meine Fantasie beflügelnder Sehnsuchtsort, den zu besuchen ich offensichtlich – aus welchen Gründen auch immer – scheute. Vor kurzem – meine Frau und ich weilten während einiger Tage im Tessin – habe ich schliesslich das Tabu gebrochen, gute siebzig Jahre nach meiner „Walser Identitätstaufe“ beim Zahnarzt in Küsnacht. Hier der Bericht eines „Wurzelsuchers“:
Unmittelbar hinter den letzten Häusern von Cevio (420 Meter ü. M.), wo das Tal der Rovana ins Maggiatal mündet und einst die Landvögte aus dem Norden residierten, welche die Guriner Walser im Umgang mit ihren Untertanen gerne als Übersetzer beizogen, steigt die Strasse in vielen Kehren steil hinauf nach Linescio (660 Meter ü. M., in der Luftlinie keine 2 Kilometer entfernt). Unterwegs kommt uns ein Sattelschlepper entgegen, auf dessen Ladebrücke mit Ketten ein gewaltiger Granitblock festgezurrt ist. Wir sind froh, dem Gefährt erst nach den engen Serpentinen zu begegnen, welche wir mit unserem Auto gerade knapp in einem einzigen Anlauf schafften, und fragen uns, wie wohl der Chauffeur seinen Sattelschlepper durch die engen Kurven gesteuert hat.
Höchstes Dorf im Tessin
In Linescio trinken wir unter den Arkaden eines stattlichen Gebäudes, das man eher in Ascona und nicht in diesem abgelegenen Bergdorf erwartet hätte, einen Kaffee. An der Fassade eines mehrstöckigen, leerstehenden Gebäudes gegenüber prangt ein Schild „Vendesi“. Wir fragen uns, was es uns erzählen könnte und wer hier einst gewohnt haben mag. Schmuggler – oder ganz einfach Arbeiter des nahen Steinbruches?
Während wir unseren Kaffee trinken, beobachten wir, wie vom Pizzo Sascòla am gegenüberliegenden Hang eine Lawine über die Felsen donnert und in einer steilen Runse einen Schneeberg aufschüttet. Aus sicherer Distanz sieht es aus, als ob ein Kind von Riesen in einem Sandhaufen spielte.
Ein paar Kilometer weiter westlich teilt sich der Fluss erneut. Von Norden mündet in einer tiefen, unpassierbaren Schlucht die Rovana di Bosco/Gurin in die Rovana di Campo. Doch der Ortsunkundige realisiert diese Verzweigung erst später. Die heutige Strasse folgt nämlich zuerst dem Valle di Campo und wendet sich erst später, als würde sie sich anders besinnen, in einer Spitzkehre zurück nach Cerentino (977 m ü. M.) und weiter hinauf in das Valle di Bosco/Gurin.
Noch immer fehlen mehr als 500 Höhenmeter bis Gurin, das auf 1500 m ü. M. das höchst gelegene permanent bewohnte Dorf des Kantons Tessin ist. Schlagartig verändert sich die Vegetation. Die Kastanien machen mächtigen Fichten Platz. Wir wähnen uns im Bündnerland, als wir schliesslich den Talkessel von Bosco erreichen.
Das Auto muss am Dorfrand stehen bleiben. Auf von riesigen Steinplatten belegten Wegen gehen wir durch das Dorf, hier eine Treppe hinunter, dort eine andere wieder hoch. Auf einer Hauswand lesen wir eine Guriner Weisheit, die man auch anderswo kennt:
D’s Näschtschi – Chlys, abar größas gnüag, wänn mu anandra liapa tüat
Schliesslich finden wir das kleine Museum, das in einem der wenigen, noch ganz aus Holz gebauten Häuser untergebracht ist. Es sei das älteste Heimatmuseum des Tessin, lesen wir am Eingang, durch den wir das Haus – leicht gebückt – betreten. Eine ältere Frau, die uns in einem Dialekt begrüsst, den wir nur der Spur nach verstehen, bestätigt, das Museum sei zwar offen, aber in zehn Minuten sei der Besuch einer Schulklasse angesagt, bis dann müssten wir wieder draussen sein.
Zum Glück verspätet sich die Klasse. So bleibt uns etwas Zeit, das kleine Haus mit den niedrigen Türdurchgängen ungestört anzuschauen. Eine aus einem einzigen Balken gebaute Treppe führt ins obere Stockwerk, wo einst in kurzen Betten die Eltern und die jüngsten Kinder schliefen. Ich versuche mir vorzustellen, wie sich das Leben hier abgespielt hat: Im Sommer die Landwirtschaft – der Anbau von Getreide war trotz der Höhenlage wichtig, denn Kastanien als Winternahrung gab es hier oben nicht –, im Winter das Handwerk in den engen, spärlich beleuchteten und beheizten Stuben, wo während der langen Nächte religiöser Schmuck für Kirchen und Privathäuser geschnitzt, aber auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs produziert wurden, zum Beispiel kunstvoll zusammengebaute hölzerne Vogelkäfige.
Zu einem gewissen Wohlstand müssen es die damals mehr als 200 Bewohner im Laufe der Jahrhunderte gebracht haben (heute sind es noch 70): Die Kirche ist gross, in üppigem italienischem Stil errichtet, und auch sonst zeugen die späteren, meist in Stein gebauten Häuser von einem gewissen Stolz, der vergessen macht, dass das Dorf im Laufe seiner Geschichte mehrmals durch Lawinen und Feuer zerstört worden ist. Weil Holz knapp wurde, machten die typischen Walser Holzhäuser immer mehr den Steinhäusern Platz, die sich kaum mehr von den Tessiner Häusern weiter unten im Tal unterscheiden. Eindrücklich ist die nach einem verheerenden Lawinenniedergang 1925 errichtete lange Stallanlage unterhalb des Dorfes, welche damals an gesicherter Stelle 30 zerstörte Ställe ersetzt hatte.
Wertvolle Information über das Dorf und seine Tradition verdanken wir dem wohl berühmtesten Sohn von Gurin, dem Grafiker und Maler Hans Tomamichel (1899–1984), Mitbegründer des Guriner Heimatmuseums und Bewahrer des Guriner Dialekts (Ech be an Ggurijaner, ech well-nech aweng zèlla vå Gguriñ. – Ich bin ein Guriner. Ich will euch ein wenig erzählen von Guriñ.), Schöpfer des Knorrli, der 1947 geschaffenen Werbefigur der Firma Knorr.
Auf der Rückfahrt versuche ich mir vorzustellen, wie die Guriner ihre Produkte auf steilen Wegen nach Cevio hinunter und weiter bis nach Locarno getragen haben. Viele werden aber ihre Tessiner Nachbardörfer kaum je besucht haben. Sie waren wohl vertrauter mit den Weiden oberhalb der Waldgrenze, die so gar nichts gemein haben mit den tiefer gelegenen Tälern und ihrer südlichen Vegetation. Während eines ganzen Lebens kaum je aus dem eigenen Tal herausgekommen zu sein, das war noch im 20. Jahrhundert keine Seltenheit. Ich erinnere mich, wie mir einst ein Militärkamerad aus dem Prättigau– wohl auch ein Walser – erzählt hatte, er hätte vor seiner Rekrutenschule höchstens zwei- oder dreimal die Hauptstadt Chur besucht, doch weiter, nach Zürich zum Beispiel, sei er nie gekommen.
Wir alle hüten Dinge in unserem im Leben, über die man immer nur träumt, ohne den Traum je Wirklichkeit werden zu lassen. Je älter man wird, desto grösser wird die Scheu, den Schleier zu lüften, welcher den Traum verbirgt. Vielleicht haben wir ganz einfach Angst vor einer möglichen Enttäuschung. Ein bisschen spürte ich diese Angst auf der Fahrt nach Gurin, die Angst vor einem alpinen Disneyland, doch das kleine Bergdorf hat die Entschleierung ziemlich gut überstanden. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass wir wegen des Covi-19-Lockdowns an jenem Tag fast die einzigen Touristen waren im Dorf – abgesehen von der Tessiner Schulklasse. So wurde das Gespräch mit der Gurinerin im Museum für mich auch ein bisschen ein Dialog mit meiner eigenen Geschichte.
(1) Max Waibel: Unterwegs zu den Walsern. Frauenfeld: Huber Verlag, 2003.