Und dann liegt auf einmal ein Gedichtband auf dem Tisch: „Mit den Worten geht die Zeit“. Autorin: Ruth Werfel. So viel hat man während der Jahre immer wieder miteinander gesprochen, ohne zu ahnen, dass sie ihre Gedanken auch in Gedichtform festhält. Und: Ja, denkt man, mit all‘ den Worten ist auch die Zeit vergangen. Sie aber hat diese Zeit sozusagen konserviert, indem sie manches in Form von Gedichten festgehalten hat. Nur für sich selbst. An eine Veröffentlichung hatte sie nicht gedacht.
Das Schreiben liegt schon in der Familie. Der Name Werfel verrät es. Franz Werfel, der grosse österreichische Schriftsteller, war der Cousin von Ruth Werfels Vater. Sie selbst ist Journalistin und lebt in Zürich.
Gedanken in der Nacht
Nun sitzen wir in der Küche ihrer Wohnung, dritter Stock ohne Lift, der Blick auf einen Park gegenüber, es ist warm und gemütlich. Draussen stürmt es. Wie bist du zur Poesie gekommen, frage ich. Und sie erzählt, dass sie so etwa in den Siebziger-Jahren angefangen habe, Gedichte zu schreiben. „Ich kann gar nicht sagen, warum. Bis heute schreibe ich sehr unregelmässig…“ Irgendwie scheint sie sich über sich selbst zu wundern. „Aber manchmal, insbesondere in der Nacht, meldet sich ein Gedanke, und er lässt einen nicht mehr los…“. Dann notiert sie ein paar Worte. Der Anfang ist damit gemacht.
Ruth Werfel sammelte ihre ersten paar Gedichte einfach so für sich. „Damals hatte ich einen Bekannten, einen Arzt aus Österreich, der sehr mit Literatur verbandelt war, in Zürich lebte und hier auch selbst ins Spital musste. Ich habe ihn ab und zu besucht und ihm einmal ein Gedicht mitgebracht. Es war eines der London-Gedichte, in dem ich – ganz unkorrekt! – schrieb, ein kleines Neger-Meitli hätte abstehende Zöpfe gehabt, wie Ruder am Kahn. Es hat mir grosse Freude gemacht, als er mir sagte, es gefalle ihm. Das hat mich ermutigt.“
Von der ersten Idee bis zum fertigen Gedicht ist es allerdings ein steiniger Weg. Viel Arbeit steckt dahinter. „Sehr viel Arbeit“, unterstreicht sie. „Es geht ja auch um eine sprachliche Musikalität, einen Rhythmus. Und mitunter ist es auch ein Ringen nur um ein einzelnes Wort, das einfach nicht stimmt. Man sucht und sucht und bleibt manchmal bei einem Synonym stecken. Immer wieder suche ich bei den Gedichten nach dem richtigen, dem treffenden Wort und finde es einfach nicht. Ich habe viele angefangene Texte, die ich später ändere oder an denen ich weiter schreibe oder die ich wegwerfe. Das klingt jetzt nach einem beständigen Dran-Arbeiten. Aber so ist es nicht. Ich habe gerade jetzt wieder eine Durststrecke. Und nachdem kürzlich mein Gedichtband erschienen ist, denke ich dann, oh je, das war’s jetzt… Und vielleicht ist es das auch gewesen.“
Dichtung und Verdichtung
Ihr Verleger hat ihr geraten, sich am Morgen drei Stunden Zeit zu nehmen, um Gedichte zu schreiben. „Aber das ist undenkbar!“ wehrt sie den Vorschlag ab, und relativiert: „Vielleicht ist es ja ein guter Ratschlag, den ich beherzigen sollte: sich an den Tisch setzen und mal sehen, was passiert. Oder vielleicht gleich eine kleine Wohnung am Meer mieten, um in aller Ruhe zu schreiben. Dann kommt die Frage: ja, aber was? Vielleicht käme sogar irgendetwas dabei heraus… aber ohne Bestimmung, ohne inneren Auftrag wohl eher nicht.“ Ausprobiert hat sie es allerdings nicht. „Vielleicht müsste man es halt doch einmal versuchen…?“
Ruth Werfels Gedichte sind eine Art Tagebuch in konzentrierter Form. In verdichteter Form. Dichtung und Verdichtung, die Wörter sind vielleicht nicht zufällig so ähnlich. In den Gedichten spricht Ruth Werfel in ganz wenigen Worten über ihre Befindlichkeit. Kein Wort zu viel und doch versteht man es sofort. Keine Schnörkel, sondern maximale Reduktion wie in diesem Gedicht:
Ein Leben
Verwartet
Verworren
Verwertet
Verwirkt
Verweht
„Darin steckt eine Sprachmusik, die stimmen muss“, sagt sie. Es sind Gedanken und Gefühle, Situationen, Träume und Momentaufnahmen, die knapp zusammengefasst und in wenige Worte geschliffen wurden. So auch hier:
Trauer
Ein Flügelschlag, leise
eine Feder, die niederschwebt
ein Laut, der verhallt
Zeit, Raum, Unendlichkeit
Ruth Werfel spricht persönliche Themen an. Leben und Tod, Liebe und Einsamkeit, Hoffnung und Enttäuschung, aber auch Freude und Glück. Ein bisschen Melancholie liegt immer darüber. Braucht es da auch etwas Überwindung, solche Gedanken in einem Buch zu veröffentlichen? Ruth Werfel denkt nach. „Eigentlich nicht“, sagt sie dann. „Das ist eigenartig: es kommt mir vor, als wenn es nicht meine Texte wären. Sie sind für mich abgeschlossen. Ich finde auch nicht, dass irgendein Gedicht zu viel von mir preisgibt. Ich denke, jeder Mensch hat mal eine Haut berührt und jeder ist mal neben einem Mann oder einer Frau im Bett gelegen.“
Gedicht als Gegenpol
In einer Zeit, in der viele Menschen nur noch in Kürzestformeln via sms oder Twitter kommunizieren und allenfalls noch ein Emoji hinzufügen, macht sich kaum noch jemand Überlegungen zur Schönheit der sprachlichen Form, durch die ein Gedanke zum Gedicht wird.
Da mag es erstaunen, dass Zeitungen wieder regelmässig Gedichte veröffentlichen. Alte, aber auch Neue. „Ich denke, das ist ein Gegenpol“, sagt Ruth Werfel. „Unsere Zeit ist so grausam und Film und Fernsehen fahren unbeirrt fort, möglichst brutale Krimis zu zeigen.“ Gedichte können da wie kleine Wunder wirken, wenn man sich auf sie einlässt. Und genauso lautet auch der Titel des ersten Gedichts, mit dem Ruth Werfel ihre Leser mitnimmt auf die Reise in ihre Welt der Poesie.
Kleine Wunder
Alles gesagt
nichts Neues
unter der Sonne
aber zwischen den Worten
kleine Wunder versteckt.
Wunderschön diese kleinen Wunder, die auf jeder Seite in jedem Gedicht, in jeder Zeile zu finden sind. Balsam für die wunde Seele.
Ruth Werfel: Mit den Worten geht die Zeit Collection Montagnola