Da sind einmal die Responsorien des Gesualdo, die sogenannten «Tenebrae» der Karwoche, die es verdienen, in jedem Jahr neu gehört zu werden. Nicht zu reden von J. S. Bachs Passionen, seinem Osteroratorium und seinen Osterzeitkantaten! Und natürlich ist auch Wagners letzte Oper «Parsifal» mit ihrem Karfreitagszauber und ihrer Erlösungsmusik und -mystik ein Werk, dem eine jahreszeitlich präzise Dringlichkeit eingeschrieben ist.
Wagners «Bühnenweihfestspiel»
Ganz gewiss ist Wagners «Parsifal» keine konventionelle Oper. Er versah sein letztes Musikdrama denn auch mit dem Titel «Weihfestspiel», was mehr als ein Bühnenspektakel sein sollte, nämlich eine die Stelle der Kirche mit ihren Opferliturgien einnehmende Theatererfahrung, für welche das neu erbaute Festspielhaus in Bayreuth denn auch die einzige «Kathedrale» für erlaubte Aufführungen sein sollte.
Die Uraufführung des «Parsifal» fand 1882 im seit 1876 bestehenden Bayreuther Festspielhaus statt, unter der Leitung des jüdischen Dirigenten Hermann Levi, der damals Münchner Hofkapellmeister war. Der Stoff des Gralsritters «Parzival» aus dem mittelalterlichen Epos des Wolfram von Eschenbach (geboren um 1170, gestorben nach 1220) beschäftigte Wagner allerdings bereits um 1845, als dieser in Marienbad weilte. Auch in seinen Zürcher Jahren um 1857 befasste Wagner sich mit der Idee einer Karfreitagsoper.
1865 verfasste er dann in München – auf Wunsch König Ludwigs II. – einen ersten Prosaentwurf des Stoffes. An die eigentliche Ausarbeitung von Text und Musik ging es aber erst zwölf Jahre später, als die «Urschrift der Dichtung» entstand und Wagner sich im September 1877 an die erste Kompositionsskizze machte. Die Arbeit am Parzival-Stoff, der nun bei Wagner «Parsifal» heissen sollte, dauerte bis zum Januar 1882. Man darf also sagen, dass ihn sein letztes, grösstes «Erlösungsdrama» über 37 Jahre lang in Atem gehalten hat.
Wagners Erlösungsobsession
In Wagners Musikdramen geht es fast immer um das Thema der Erlösung aus Schuld und Sünde, aus den Irrungen und Wirrungen des privaten und des öffentlichen Lebens. Das hängt auch damit zusammen, dass Schopenhauers Philosophie in Wagners Denken immer dominanter wurde. Befreiung von den Ketten eigener Begierde und Lust, von Leistungs- und Anerkennungssucht, vom Liebeswahn wie vom Machttrieb: Das ist es, was die Figuren in Wagners berühmten Dramen letztlich anstreben.
Wie man Wunden heilen, Schuld abtragen, Verzeihung erlangen kann, und wie man mit sich und mit der Welt am Ende vielleicht doch noch ins Reine kommen könnte: sind dies nicht Fragen, die eigentlich alle beschäftigen müssen? Zumal die Versehrten, Verletzten, zu Fall Gekommenen, die erst dadurch zu Reue, Mitleid und Einsicht gelangt sind?
Konkret geht es hier um die Wunde des Amfortas, Sohn des Titurel, des Gründers des zölibatären Ordens der Gralsritter auf ihrer Burg Monsalvat. Er leidet an ihrer Unheilbarkeit, seit seinem Besuch im Lustgarten des Klingsor, des Gegenspielers der Gralsritter, wo er weiblicher Liebeslust erlag. In Amfortas besinnungslosem Liebestaumel gelang es Klingsor, diesem den Speer zu entwenden, jene Reliquie, mit welcher der römische Hauptmann Longinus am Karfreitag angeblich dem gekreuzigten Jesus die Seite öffnete. Klingsor verletzte darauf den liebestrunkenen Amfortas mit dem Speer im Lendenbereich. Seither will die Wunde des Sünders Amfortas nicht mehr aufhören zu bluten.
Der reine Tor
Nun kommt Parsifal ins Spiel: ein ahnungsloser tumber Jäger, der in den geschützten Wäldern der Gralsritter mit seinen Pfeilen die heiligen Schwäne vom Himmel schiesst! Er wird als Ahnungsloser vom Gralsreich zurück in die Wildnis getrieben, wo er auf seiner Wanderschaft auch zu Klingsors Garten und zu den Blumenmädchen gerät. Hier ist es Kundry, die Botin eines allein der Lust gewidmeten Lebens, die Parsifal das Geheimnis der Liebe erschliesst mit einem Kuss, der für den jungen Ritter Mutterliebe und weibliche Lust vereint. Es gelingt Parsifal, im Kampf mit Klingsor den Speer zurückzugewinnen, den er nun den Gralsrittern zurückbringen will. Denn die Wunde des Amfortas kann nur jener Speer heilen, der diese geschlagen hat.
Der ganze dritte Akt des Dramas stellt nun die Wandlung des in der Liebe wissend gewordenen und Mitleid fühlenden Toren dar. Und wie er getauft, zum Ritter geschlagen und zum Nachfolger des Amfortas gekürt wird. Damit hat die Ritterschaft wieder einen «Helden», welcher des Dienstes am Gral würdig ist und zur körperlichen und seelischen Stärkung der Ritterschaft die Öffnung des Gralsschreins vollzieht, wie die Tradition und der Ritus der Gralsbrüder es verlangen.
Musikalisch ist «Parsifal» eine viereinhalb Stunden dauernde leitmotivische Meisterleistung Wagners, imponierend und tief ergreifend. Thematisch ist diese Erlösungsgeschichte jedoch äusserst ambivalent. Man wird es niemandem verübeln, der diese lustfeindliche zölibatäre Männerreligion, die Frauen als gefährlich-dämonische Verführerinnen zeichnet und nur als Büsserinnen und Dienerinnen in ihren klerikal verkümmerten Kreisen toleriert, weit von sich weist. Man muss aber daran erinnern, dass die Quellen von Wagners «Parsifal» – dessen mittelalterliche Vorbilder – weit weniger körper- und sexualfeindlich sind als Wagners puritanisch verseuchte Textfassung.
Parsifal als stimmliche Herausforderung
Als Frauenstimmen gibt es in dieser Oper zwar sechs zauberhaft tönende Blumenmädchen, die sogenannten «Klingsors Zaubermädchen», daneben jedoch nur eine wirklich grosse Frauenrolle: die grandiose Mezzo-Partie der Kundry. Dramatische Soprane gehen zurecht an den Chancen dieser Rolle nicht vorbei, auch wenn Kundry im letzten Schlussbild nur zu schweigen hat. Hingegen sind alle Männerrollen stimmlich und die meisten auch darstellerisch interessant und dankbar angelegt. Die meisten Chöre sind beinah nur männlich prächtig. Die Rolle Parsifals ist mit jener Tristans oder Siegfrieds aus Wagners «Ring der Nibelungen» vergleichbar. Das heisst: höchst heldisch veranlagt und sich gebärdend!
Lauritz Melchior (1890–1975) soll in seinem Leben 230 mal den Tristan und immerhin 80 mal den Parsifal auf der Bühne gesungen haben. Es gibt in der Wagnergemeinde Fans von Melchior, die überzeugt sind, selbst ein Jonas Kaufmann käme heute nicht einmal in die Nähe jener tenoralen Naturkraft, mit welcher Melchior als Parsifal ausgestattet und gesegnet war. Ich habe hier den Schlussgesang Parsifals ausgewählt, seine «Selbst-Inthronisationsarie» als neuen Gralshüter. Die Einspielung stammt aus dem Jahr 1938. Am Pult des Philadelphia Orchesters stand damals Eugene Ormandy.
«Nur eine Waffe taugt»
Amfortas fordert von seinen Rittern, man möge ihn töten ob seiner Schuld und seines Unvermögens als Sachwalter der Ritterschaft. Da erscheint in der Ritterrunde wie der rettende Messias Parsifal mit dem Speer und berührt mit dessen Spitze Amfortas Seite. Dieser möge nun «heil, entsündigt und gesühnt» sein. «Gesegnet sei dein Leiden, / das Mitleids höchste Kraft / und reinsten Wissens Macht / dem zagen Toren gab!» Nicht nur ist der heilige Speer zurückgewonnen und wieder im Besitz der Gralsritter. Er vollbringt das Wunder und schliesst des Amfortas Wunde. Nun darf das richtige Blut wieder fliessen: Christi Blut im Gralskelch. Der Schrein kann nun geöffnet werden. Die Erlösungstat ist real und symbolisch vollzogen.
«Parsifal» endet mit einem vom Chor gesungenen Rätselwort. Es lautet: «Erlösung dem Erlöser!» Experten sinnen seit mehr als hundert Jahren darüber nach. Meinte Wagner damit Christus? Oder vielleicht sich selbst, als jenen Künstlergott, der das Wunderdrama eines «Bühnenweihfestspiels» zustande brachte? Oder gar beide? Wir dürfen es offenlassen.
Über Eines gibt es allerdings keine Zweifel: Für die Tücken der Partie des Parsifal taugt in der Tat «nur eine Waffe»: die taugliche Tenorstimme!
Moritz Melchior im Schlussgesang Parsifals, Einspielung aus dem Jahre 1938