Es war schon ein kleiner Paukenschlag, als die deutschen Sozialdemokraten am Montag (10.08.) bekanntgaben, dass Olaf Scholz – Finanzminister in der von Angela Merkel geführten Grossen Koalition – als ihr Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl 2021 gehen soll. Um Scholz’ eigene Sprachwendung und die des vor einem halben Jahr von der SPD-Parteimitgliedschaft gewählten Führungsduos Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken aufzugreifen: Es war ein „Wumms“. Wobei die politisch interessierten Zeitgenossen freilich weniger die getroffene Personalwahl überraschte, als vielmehr der Zeitpunkt.
Warum zu diesem Zeitpunkt?
In breiten Teilen der SPD – Linke ausgenommen – genoss der frühere Hamburger Bürgermeister und nunmehrige „Schatzmeister“ des Bundes seit langem ein hohes Ansehen. Und, nicht zuletzt wegen seines beherzten Zupackens im Zuge der Corona-Krise, ist es auch kein Wunder, dass ihn die Meinungsumfragen bei den Bürgern auf der Beliebtheitsskala sozialdemokratischer Politiker mit Abstand weit oben ausweisen. Warum aber gerade jetzt die Kandidaten-Kür? Schliesslich hatte Lars Klingbeil, der SPD-Generalsekretär, noch vor wenigen Tagen den Spätsommer als „mögliches Datum“ benannt. Ausserdem ist Ferienzeit, in der viele Zeitgenossen für politische Themen nicht oder kaum erreichbar sind. Bleibt eigentlich nur eine Erklärung: Man wollte, unter allen Umständen, diese (ohne Frage wichtige) Personalfrage vor der CDU geklärt haben, die im November/Dezember über ihren künftigen Parteivorsitz und damit – vermutlich – auch die Spitzenkandidatur entscheiden will.
„Olaf hat den Kanzler-Wumms!“ Dies haben, auf praktisch sämtlichen „sozialen“ Medien, Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans der Welt verkündet. Damit sprachen sie, wenn Worte einen Sinn haben sollen, dem amtierenden Bundesfinanzminister alle Qualifikationen zu, die nötig sein werden, um die am Boden liegende Partei wieder zu einstiger Stärke, Grösse und früherem Stolz aufzurichten. Es spricht nicht gegen den 1958 im niedersächsischen Osnabrück geborenen Scholz, wenn man vorhersagt: Diese Erwartung wird er nicht erfüllen können und am Ende wird vermutlich die Frage nach dem Umfang des Scheiterns stehen.
Parteivorsitzende am laufenden Band
Um zu dieser pessimistischen Bewertung zu kommen, braucht man einfach nur in die von Trümmern übersäte Gegenwart der einst ruhmreichen, ältesten und von schlimmen Schlägen gebeutelten deutschen Partei zu schauen. Zu Zeiten des legendären Willy Brandt erreichte die SPD nahezu 45 Prozent der Wählerstimmen. Später, mit Helmut Schmidt und Gerhard Schröder im Kanzleramt, lag sie immerhin noch hoch in den 30ern. Heute dümpelt sie (jüngsten Umfragen zufolge) bei 16 oder 17 Prozent herum. Seit 1990 „verbrauchte“ die SPD 16 Parteivorsitzende, davon (die amtierenden zwei nicht mitgezählt) vier in den vergangenen vier Jahren. Das sieht nicht nach Harmonie und geordneter Amtsübergabe aus. Und das war es auch nicht.
Gehen wir jetzt mal etwas mehr als ein halbes Jahr zurück. Damals waren die (ob des schier unaufhaltsamen Niedergangs) ratlosen Parteistrategen auf die grandiose Idee gekommen, die Mitgliederschaft über die gewünschte Parteispitze entscheiden zu lassen. Und zwar erstens über eine so genannte Doppelspitze (mithin eine Frau und ein Mann) und zweitens auf dem Weg über ein Ausschlussverfahren. Mit auf dem Laufsteg: Olaf Scholz und Klara Geywitz. Obwohl als Favoriten gehandelt, fiel dieses Duo krachend durch. Nicht zuletzt wegen einer starken Truppe von Parteilinken, geführt vom (noch) Vorsitzenden der Jungsozialisten, Kevin Kühnert, der nächstes Jahr in Berlin für den Bundestag kandidieren wird. Statt Scholz/Geywitz hiess das Siegerpaar Esken/Walter-Borjans – zwei erklärte Gegner der im Prinzip von Pragmatismus und Ausgleich betriebenen Scholz-Politik.
Linke Mehrheit? Wo denn?
Man habe, sagen jetzt SPD-Chef und -Chefin, in den vergangenen Monaten zu einem vertrauensvollen Miteinander zusammengefunden. Wirklich? Wie passt denn dazu, dass zwei Tage vor der Kanzlerkandidaten-Kür sowohl Esken als auch Walter-Borjans in Twitter-Botschaften die Bereitschaft der SPD bekundeten, im kommenden Jahr einen Wahlkampf mit dem Ziel einer „linken Mehrheit“ führen zu wollen? Und zwar mit einer Spitzenfigur namens Scholz! Einem Mann mithin, der mit der Linken bisher nie etwas am Hut hatte, und dessen Nachfolger beim jüngsten (für die SPD erfolgreichen) Hamburger Senatswahlkampf demonstrativ die Nähe zu der Partei mied. Und dann der Traum von einer „linken Mehrheit“ bei solchen Umfragewerten: SPD circa 15, Linke 7 Prozent. Macht zusammen: rund 22 Prozent. Wobei die Sozialdemokraten in der Rangfolge sogar weiterhin hinter den Grünen rangieren. „Linke Mehrheit?“ Davon zu träumen, ist schon mutig. Daran zu glauben, übermütig.
Keine Frage, diese Analyse und ähnliche Bewertungen sind Momentaufnahmen. Bis zur Bundestagswahl im Herbst nächsten Jahres kann noch viel geschehen und entsprechend viel durcheinandergewürfelt werden. Zumal sich die Wirkung einer in den Spekulationen der SPD-Planer enthaltenen politischen „Unbekannten“ in der Tat nicht vorhersehen lässt: Das Abtreten Angela Merkels aus der aktiven Politik. Der ausgewiesene SPD-Linke Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein (auch kein erklärter Scholz-Freund) wies sehr zu Recht darauf hin: „Die gegenwärtig hohen Umfragewerte der Union (37 Prozent) sind im Wesentlichen Merkel-Werte.“ Die, in der Tat, können schnell abschmelzen, zumal sich bisher für die Nachfolge der Kanzlerin bei den Konservativen kein strahlender Held aufdrängt
Trotzdem ist kaum zu erwarten, dass die Kandidaten-Entscheidung zugunsten von Olaf Scholz im konservativen Lager der Bundesrepublik Angst und Schrecken auslösen wird. Dabei spielt gewiss auch die Tatsache eine Rolle, dass die noch im Januar vor dem Zerbrechen stehende schwarz-rote Koalition ausgerechnet in der schwierigen Zeit der Krisenbewältigung zu einer kaum geglaubten Festigung geführt hat. Umso unverständlicher ist deshalb, dass die SPD (und in diesem Fall auch noch die oberste Führung) wieder in den inzwischen schon fast traditionellen Fehler verfällt, nicht die – ohne Zweifel – von ihren Kabinettsmitgliedern erreichten Leistungen hervorzuheben. Stattdessen zündelt und hängt sie – oder zumindest ihr linker Flügel plus Führungsduo – dem Traum von einer linken Mehrheit an. Und das mit einem Kanzlerkandidaten, der als Finanzminister ja rechnen und damit Phantasien von Realitäten unterscheiden kann.