Das neue Buch der Soziologin Eva Illouz ist ein Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Staatskrise in Israel. Es zeigt und erklärt, was sich seit Langem anbahnte, was nun offen und gewalttätig zutage tritt und weshalb nur erschrocken sein kann, wer stets weggeschaut hatte.
Die israelische Soziologin Eva Illouz – auch hierzulande als Suhrkamp-Autorin längst bekannt – analysiert die Lage in gewohnt souveräner Weise. Nichts geschah im Verborgenen, sondern vor aller Augen. Nur wollte man die Realität mehrheitlich nicht wahrhaben. Und es hat auch nicht an Stimmen und Medien gefehlt, die seit Jahren auf die gefährlichen Entwicklungen hingewiesen haben, aber sie wurden nicht gehört. Das Buch schliesst darüber hinaus die Lücken, die eine oft mangelhafte und oberflächliche (Ereignis-)Berichterstattung aus Israel in deutschsprachigen Medien hinterlässt, anders als etwa in der angelsächsischen Presse.
Inzwischen haben in Israel die religiös-nationalistischen, die ultraorthodoxen, die radikal-nationalistischen Kräfte längst die Oberhand gewonnen, auch dank der Langzeitregierung von Benjamin Netanjahu. Heute allerdings weiss man nicht mehr, wer hier wen in der Hand hat; jedenfalls sieht es sehr danach aus, dass er auf sie angewiesen ist und nicht (mehr) sie auf ihn. Netanjahu droht sonst über seine korrupte Vergangenheit zu stürzen.
Illouz will am Beispiel Israel verdeutlichen, was populistische Politik heisst, woraus sie sich zusammensetzt und weshalb sie so erfolgreich ist bei jenen, die bei genauem Hinschauen nicht im Geringsten von ihr profitieren, eher im Gegenteil. Gleichzeitig macht sie deutlich, was in Israel anders ist und anders verläuft als etwa in Ungarn, Polen oder Indien, die sie zum Vergleich heranzieht. Das hängt mit der besonderen Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft zusammen.
Stark segmentiertes Land
Prägend an den massgeblichen Stellen sind nach wie vor Israelis aschkenasischer (osteuropäischer) Abstammung, die man mit der Elite gleichsetzen kann. Ihnen gegenüber standen von Beginn an die orientalischen, sephardischen Juden, die bis heute die armen Schichten bilden. Ihre politische Partei ist die Shas, mit dem verurteilten Arie Deri an der Spitze. Rasant wächst die ultraorthodoxe Gemeinschaft, was sie auch ihrem Kinderreichtum verdankt und die, weil parteipolitisch von Gewicht, unzählige Vergünstigungen geniesst. Die wichtigsten sind ihre Befreiung vom Militärdienst und die staatlichen Mittel, die sie für ihr eigenes und staatlich kaum kontrolliertes Erziehungssystem bekommen, wo die Kinder aber so gut wie keine weltlichen Fächer lernen. Seit Langem Gründe für wachsende gesellschaftliche Spannungen.
Zur politisch mächtigsten Kraft ist die Siedlerbewegung herangewachsen, die von jeder Regierung, ob links oder rechts, seit 1967 gefördert wurde und die auch innerhalb der Armee immer mächtiger wird. Schliesslich die israelischen Palästinenser, die von jeher und immer stärker gesetzlich diskriminiert werden. Sie machen 20 Prozent der Israelis aus. Doch mit den Bewohnern Ostjerusalems, der Westbank und des Gazastreifens machen sie heute die Hälfte aller Bewohner des Gebiets von Jordan bis Mittelmeer aus. Das unterscheidet Israel von weniger segmentierten Ländern wie beispielsweise Ungarn. Mit jedem dieser Segmente, ihren Antagonismen wie ihrem Zusammenspiel, ihrem wirtschaftlichen wie politischen Gewicht, befasst sich Illouz. Erst so beginnt man zu verstehen, worum es inzwischen geht und wie brandgefährlich die Lage ist.
Politik der Emotionen
Illouz’ zentrale Kategorie, um den israelischen Populismus zu charakterisieren, ist die Emotion. Gefühle als Reaktion auf soziale Bedingungen, als kollektive Narrative, als Schuldzuweisungen. Diese werden dann von den Eliten manipuliert (wie andernorts auch). «Ich bin ein Opfer» – dieses Ressentiment sieht sie in der Schlüsselrolle, auch bei einem Netanjahu, der wie Trump von «Hexenjagd» spricht, oder bei den Sepharden, die entgegen ihrer wahren und jahrzehntelangen politischen Macht sich von den «Eliten» zu Boden gedrückt sehen. Was allerdings angesichts ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung auch stimmt.
Israels populistische Politik hat nach Illouz’ These drei einflussreiche soziale (auch historische) Erfahrungen umkodiert:
- Die unterschiedlichen kollektiven Traumata aus der Geschichte werden zu einer allgemeinen Angst vor dem Feind.
- Der israelischen Landbesetzung von 1967 folgen ideologische Kämpfe um den Charakter des israelischen Nationalismus.
- Die langanhaltende Diskriminierung der sephardischen Einwanderer wird zu einem mächtigen Treiber von Ressentiments.
Angst, Abscheu, Ressentiment als negative Emotionen sind für Illouz die wesentlichen Begriffe, die es zu verstehen gilt und die alle in der Liebe zur Nation und zum jüdischen Volk aufgehoben sind – der vierten Emotion. Sie prägen den israelischen Populismus. Die demokratisch verfassten politischen Institutionen haben dem erstaunlich lange standgehalten, aber wir erleben nun in Echtzeit, wie sie zusammenzubrechen drohen. Die Judikative an vorderster Stelle.
Antisemitisch umgedeuteter arabischer Widerstand
Der historische Ausgangspunkt war ein Missverständnis, sagt Illouz. Der arabische Widerstand gegen die zionistische Besiedlung Palästinas lange vor der Staatsgründung war der bekannte Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen kolonialistische Eroberung und hatte mit Antisemitismus nichts zu tun. Doch er wurde rasch dazu umgedeutet. Dass dann im Lauf der Jahre auf arabischer Seite tatsächliche antisemitische Einstellungen ursprünglich europäischer Provenienz sichtbar wurden, hat die zionistische Seite als Bestätigung begriffen. Die Folge war von Beginn an, dass «Sicherheit» zum zentralen Begriff wurde, und «Überleben» zum entscheidenden Operationsmodus, weshalb Armee, Polizei, Geheimdienste Schlüsselrollen bekamen.
In dieser Sicht wurden Araber zu einer undifferenzierten und hasserfüllten Masse, und es galt als richtig, im Namen des Überlebens deren Rechte zu missachten. Israel hat nie zwischen Bedrohungs- und Normalzustand zu unterscheiden gelernt, Angst ist Teil des Nationalbewusstseins. Vor allem aber, das sagt auch Eva Illouz, ist das Schüren der Angst zum politischen Instrumentarium geworden, immer schon.
Fixierung auf «Sicherheit»
Wahlen gewinnt, wessen «Sicherheits»-Versprechen am ehesten geglaubt wird. Und keiner hat Angst so geschürt – auch vor dem politischen Gegner – wie die rechten Regierungen unter Benjamin Netanjahu. Er hat aber nur perfektioniert, was die ehemals linke Arbeitspartei erfunden hatte, schreibt Illouz. Inzwischen ist der gesamte Sicherheitskomplex dank der Hightechindustrie zu einer milliardenschweren Industrie geworden, in der die Logik des Kapitalmarktes mit staatlich sanktionierter Gewalt verschmilzt. Die Skandale um die in den vergangenen Monaten bekanntgewordenen israelischen Überwachungsfirmen, die ihre Produkte international vermarkten, hat das auch hierzulande bewusst gemacht.
So wird in Israel zwischen militärischer und ziviler Denk- Handlungs- und Gefühlsweise immer weniger unterschieden. Völlig verloren geht dabei, dass der Feind ebenfalls von Angst geleitet ist – und das mit weit mehr Berechtigung. So starben in den letzten 17 Jahren – nur ein Beispiel – 6’000 Menschen im Gazastreifen; ihnen stehen 106 Israelis, Zivilisten und Soldaten, gegenüber. Auch in der Westbank übersteigt die Zahl palästinensischer Opfer jene der jüdischen um ein Vielfaches. Der Mossad hat mehr – echte oder vermeintliche – Gegner auch ausserhalb Israels «extralegal» ermordet als alle westlichen Geheimdienste zusammen.
Verpasste Heilung kollektiver Traumata
In Eva Illouz Worten: «Die israelische Öffentlichkeit, als Treffpunkt eines souveränen Volkes, hätte ein Ort der Heilung von den kollektiven Traumata sein können, die dem jüdischen Volk zugefügt worden sind. Stattdessen hat man diese Traumata seit Generationen ihrem Bewusstsein eingebläut, nicht zuletzt, weil sie zu einer feindlichen Geografie zu passen schienen. Das aber hat es praktisch unmöglich gemacht, die komplexen Unterschiede zwischen vergangenen Judenvernichtungen sowie den geopolitischen und diplomatischen Herausforderungen von heute festzuhalten, die in dem langwierigen Konflikt mit den Palästinensern liegen.»
Eine wertvolle Ergänzung zu ihrer eigenen Analyse sind mehrere Interviews, die Illouz eingebaut hat. Zu den Gesprächspartnern zählt ein ultranationalistischer Siedler-Rabbiner, dessen vollkommene Verdrehung der Realität atemberaubend ist. (Wir jüdischen Siedler sind die Opfer der Palästinenser!) Oder drei Kibbuz-Bewohnerinnen nahe dem Gazastreifen, die oft kriegerische Auseinandersetzungen erleben und daher die Gefahr klarer einordnen können und genau deshalb eher wahrnehmen, was die Bewohner von Gaza antreibt. Oder ein Vertreter von Breaking the Silence, der Organisation ehemaliger Soldaten in den besetzten Gebieten, der eindrücklich darüber berichtet, wie die Feindseligkeit ihnen gegenüber tief in die «Normalgesellschaft» vorgedrungen ist («Verräter»). Dass bei allem die Palästinenser und ihr Leid ignoriert werden von einer Mehrheit (wie auch jetzt bei den Grossdemonstrationen), die sich mit mehr historischem Recht als Opfer bezeichnen, zeigt, wie sehr Israel inzwischen zu einer Ethnokratie geworden ist, zu einer Demokratie nur für die jüdischen Israelis. Das wird nur schon daran ersichtlich, dass es keine israelische Staatsbürgerschaft gibt, in einem Staat, der sich exklusiv als der Staat der Juden versteht.
Eva Illouz: Undemokratische Emotionen. Das Beispiel Israel. Suhrkamp TB 2023, 259 S., Fr. 28.90