Im Wirtschaftsblatt „Business Standard“ las ich kürzlich, dass eine Umfrage des Tourismus-Portals Expedia Indien als das Land identifizierte, das am wenigsten oft Ferien macht. Vierzig Prozent der Inder unter den 9000 befragten Teilnehmern der Umfrage gaben an, ihren Feriensaldo nicht auszuschöpfen, „wegen zu viel Arbeit“.
Ferienkoffer mit Arbeitsmaterial
Indien ist in guter Gesellschaft: Im erwähnten Vacation Deprivation Survey nehmen asiatische Länder vier der fünf Spitzenplätze ein. Während sich im Westen Ferien und Freizeit mit kürzeren Arbeitszeiten in die Arbeitswelt graben, geschieht in Asien offenbar das Gegenteil: Ferien werden zwar einkassiert, aber immer öfter in der Form von – Heimarbeit. Was im Westen ein verbrieftes Recht ist, ist in Asien eine lästige Arbeitsunterbrechung. 54 Prozent der angesprochenen Inder packen neben Badehose oder Wanderschuhen auch ihr Arbeitsmaterial in den Ferienkoffer.
Man kann einwerfen, solche Umfragen seien statistisch wenig repräsentativ. Denn die 9000 Befragten sind vermutlich alle Expedia-Kunden oder Besucher ihrer Webseite – ein winziges Segment der Bevölkerung. Zudem bedeutet Büro-Aufenthalt noch lange nicht Arbeiten.
Ausgediente Vorurteile
Oft sitzen Arbeitgeber im gleichen Boot wie ich, als ich meinen Nachtwächter zu wiederholten Malen mitten in der Nacht schlafend angetroffen hatte. Auf meine Vorhaltungen erklärte er mir, der Lohn decke nur seine Anwesenheit ab. Wenn ich wolle, dass er wach bleibe, müsse ich dies gesondert bezahlen.
Es sind Erfahrungen wie diese, die unser westliches Vorurteil prägen, dass Inder – und überhaupt Asiaten – arbeitsscheu sind. Bei den Asiaten hat dieses Cliché inzwischen ausgedient, zu gross sind die Wirtschaftserfolge der asiatischen „Tiger“-Staaten, von Japan und China nicht zu reden. Müssen wir nun auch die faulen Inder in den Papierkorb ethnischer Vorurteile werfen?
Bezahlte Ferien?
Wer mehrere Jahrzehnte Indien-Aufenthalt auf dem Buckel hat, kann sich solche Schwarzweissbilder ohnehin nicht leisten; dafür ist die Realität zu widersprüchlich. Gerade die Inder lieben es, die dualistischen Denkmuster des Westens durcheinander zu wirbeln, als da sind: gut/schlecht, richtig/falsch, glauben/wissen, ehrlich/verlogen (und, ja: auch männlich/weiblich).
Dasselbe gilt für Arbeit/Freizeit. Als ich mich vor bald zehn Jahren in diesem Dorf ausserhalb von Bombay niederliess, war ich erstaunt, dass der Gärtner und der Koch sieben Tage pro Woche arbeiteten. Als ich ihnen einen freien Tag anbot, waren sie eher erschrocken als erfreut, und sie zögerten zu Beginn, ihn zu kassieren. Bezahlte Ferien? Nie gehört.
Zauberwort Casual Leave
Für Arbeitsrechtler wäre dies schon fast Leibeigenschaft, und ich spüre schon, wie die Gewerkschaftsfreunde unter meinen Lesern unruhig werden. Ist B. I. am Ende ein verkappter Sklavenhalter? Gemach. Mein Rettungsring: Casual Leave.
Es ist ein Wortpaar ganz nach indischem Geschmack, oder wie wir in der Schweiz tadelnd sagen würden: „Weder Hans noch Heiri“. Denn es ist weder Arbeit noch Ferien. Man nimmt zwar frei, aber es „zählt“ nicht als Ferienbezug. Eine Pilgerfahrt ist angesagt, man ist zu einer Hochzeit im Dorf eingeladen, jemand ist gestorben, ein Kind steckt in den Prüfungen, ein Cricket-Turnier braucht Zuschauer: alles Fälle für Casual Leave.
Und erst die vielen religiösen Anlässe! Bei den grossen Festen – Diwali, Ganpathi, Dassehra – weiss niemand ausser dem Mond so richtig, wann der eigentliche Festtag anbricht; daher nimmt man gleich mehrere Tage „chutti“. Bei den restlichen dreizehn offiziellen Bank Holidays weiss man wenigstens, wann dieser Heilige oder jener Gott geboren oder gestorben ist – nur ein Tag Casual Leave also. Unsere Angestellten kommen auch ohne Ferien auf ihre drei Wochen Frei-Tage.
Daheim im Job
Die Inder sind nicht arbeitsscheu, im Gegenteil, sie gleichen oft eher den westlichen Workaholics; und dies gerade weil sie nicht wie wir Europäer von dieser cartesianischen Spaltung von Arbeit/Heim gezeichnet sind. Es ist ein Geschenk der industriellen Revolution, mit Fabrik und Büro als Kontrapunkt zu Heim&Haus. Begriffe wie Work/Life-Balance oder 42 Stunden-Woche zeigen, wie stark wir diese Dualität bis heute verinnerlicht haben.
Den meisten Indern, die ich kenne, sind solche Gegensatzpaare fremd. Aber das heisst eben nicht, dass sie weniger arbeiten. Selbst Bekannte in gutbezahlten Jobs mit festen Ferien- und Sozialleistungen fühlen sich in ihrem Job buchstäblich „daheim“. Für keinen träfe die Bezeichnung Nine-to-five-Job zu. Ein Termin mit meinem meinem Bankmanager um sieben Uhr abends? „No Problem. I’m here anyway.“
Am Samstag ohne Krawatte im Büro
Überzeit? Kein Thema, und selbstverständlich kein Grund zu einem höheren Lohnansatz. Der einzige Unterschied zwischen Fünf- und Sechstage-Woche lautet: Die privilegierten Mitglieder der erstgenannten Kategorie fahren am Samstag ohne Krawatte ins Büro; und der Schwatz beim Kaffee-Automaten darf etwas länger dauern. Wenn eine Gattin von ihrem Mann sagt „He’s married to the job“, steckt dahinter nicht nur Achselzucken oder Ironie – auch Bewunderung schwingt oft mit.
Nun könnte es ja sein, dass diese Generation Inder einfach mehr arbeitet, weil sie mehr Geld verdienen will. Die Expedia-Umfrage stellt auch diese Annahme in Frage. Die Inder sind nämlich die einzigen Umfrageteilnehmer unter den 26 Nationalitäten, die in der Mehrzahl (54 Prozent) längere Ferien einem höheren Salär vorziehen würden. In andern Ländern will man mehr Geld sehen; dort wollen – immer laut erwähnter Umfrage – nur 15 Prozent mehr Ferien.
Die Revolution des Mobiltelefons
Man kann es den geplagten Edel-Kulis nachfühlen. Denn in ihrem Selbstverständnis ist die fehlende Trennung zwischen Freizeit/Arbeit, Büro/Zuhause offenbar nicht ein Anlass, am Arbeitsplatz ultralange Teepausen einzuschieben. Das Gegenteil ist der Fall: Das Büro ist das (zweite) Zuhause, und das erste Zuhause wird, dank Internet und Smartphone, immer mehr zum Arbeitsplatz.
Wie so oft verbindet sich ein traditionelles kulturelles Verhalten – das Ineinander von Arbeit und Musse – mit der digitalen Kommunikationstechnologie. Zusammen revolutionieren sie den Faktor Arbeit noch gründlicher als die gleiche Technologie dies für die moderne westliche Gesellschaft tut. Wer das Smartphone nicht abstellt, ist ständig drahtlos auf Draht, ob in Indien oder der Schweiz.
Für die meisten Inder ist das Mobiltelefon die erste technische Revolution, die sie hautnah erleben. Mit umso grösserer Hingabe lassen sie sich auf sie ein. Sie schwatzen, tippen und flippen drauflos, ungeachtet der Umstände der physischen Umgebung – am Familientisch, im Kino, beim persönlichen Gespräch, am Strand oder im Tempel.
Indisch-europäische Verhaltensannäherung
Dank Handy verschmelzen die kulturellen arbeitspsychologischen Unterschiede zwischen Indern und Europäern in Sachen Arbeit/Freizeit. Die digitale Technologie hat auch im Westen dafür gesorgt, dass sich der Abstand zwischen Arbeit und Freizeit verkürzt. Die Frage ist also für beide dieselbe: Wird die Freizeit immer mehr „verarbeitet“? Oder kommt die Arbeit zunehmend „zur Ruhe“?
Kulturpessimisten nehmen vermutlich des Erstgenannte an. Zufällig las ich am Tag meiner Expedia-Lektüre die Rezension eines Buchs mit dem Titel REST („Ausruhen“). Der US-koreanische Autor Alex Soojung-Kim Pang warnt davor, Freizeit einfach als etwas Passives anzusehen, in der man sich von der Arbeit erholt, sich ablenken lässt, schläft, vergisst, ausruht.
Make time for rest
Es sei nicht Ausruhen, wenn das Büro ins Restaurant oder zu einem Sportmatch oder nach Hause mitgeht. „Rest is not something that the world gives us“, schreibt er. „It’s never been a gift. It’s never been something you do when you’ve finished everything else. If you want a rest, you have to take it. You have to resist the lure of business, make time for rest, take it seriously, and protect it from a world that is intent on stealing it … Work provides the means to live, rest gives meaning to life.“
Bedenkenswerte Ruhetagswünsche. Und sie gelten nicht nur den indischen Workaholics.