China ist heute der weltweit grösste Verursacher von Abfällen und war bis vor kurzem der grösste Müll-Importeur der Welt. Ungewohnt ratlos fragte vor Jahren schon das Parteiblatt «Renmin Ribao» (Volkstageszeitung), wie denn den jährlich rasant wachsenden Müllbergen beizukommen sei. Fast eine Milliarde Mobiltelephone seien im Abfall gelandet und nur zwei Prozent den Herstellern zur umweltfreundlichen Entsorgung zurückgegeben worden.
Alarmierendes Gesamtbild
Die offiziellen Statistiken zeigen ein alarmierendes Gesamtbild. So wurden im Jahre 2000 noch118 Millionen Tonnen Haushaltabfall registriert, 2013 waren es dann schon 161,5 Millionen Tonnen, 2014 179 Millionen Tonnen, 2016 203,6 Millionen Tonnen. Bis 2030 rechnen die Behörden mit 480 Millionen Tonnen jährlich. Neben dem Haushaltabfall gab es 2016 zusätzlich Hunderte von Millionen Tonnen industriellen Fest- und Baumüll sowie 53,5 Millionen Tonnen gefährlichen Sondermüll.
Chinesinnen und Chinesen produzieren heute pro Jahr und pro Kopf 480 Kilogramm Abfall. Doch die Amerikaner verbrauchen mit 760 Kilogramm deutlich mehr, ebenso die Schweizer mit 702 Kilogramm. Die Staaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) – alles Länder mit hohem Pro-Kopf-Einkommen – kommen auf 520 Kilogramm im Schnitt.
Ayi Fan
Schon 1979 zu Beginn der Wirtschaftsreform und der Oeffnung nach Aussen erliess China ein Umweltschutzgesetz. Das richtete sich vor allem gegen Industrieabfälle. Fabriken entsorgten ihre Abwässer zum Beispiel unbehandelt in Flüssen. Haushaltsabfälle hingegen fielen kaum an. Alles und jedes wurde wieder verwertet. Als Ihr Korrespondent 1985 nach China kam, erlebte er das selbst. Ayi Fan, der gute Geist im Haus, warf nichts, gar nichts weg. Sie konnte alles für irgendeinen Zweck wieder gebrauchen. Ayi Fan gehörte noch jener Generation an, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aufwuchs. Alles wurde wiederverwertet. Abfalldeponien gab es noch nicht.
Sautränke
Die «nassen Haushaltsabfälle», also Essensüberreste, sammelte Ayi Fan in einem kleinen Kessel und gab sie dem täglich auf dem Dreirad vorbeikommenden Abfallsammler. Der wiederum konnte alles für wenige Yuan einem Schweinemastbetrieb verkaufen. «Sautränke» gibt es in China übrigens – im Gegensatz zur Schweiz – auch heute noch. Ohne Probleme. Auch mit Sautränke hat Ihr Korrespondent als Knabe in der Schweiz überlebt …
Legale und illegale Deponien
Mit der wachsenden Wirtschaft nahm in China aber bereits in den 1980er Jahren der Abfall zu. So wurden die ersten Mülldeponien 1985 angelegt. Sie wuchsen in den folgenden zwei Jahrzehnten sehr schnell. Die Hauptstadt Peking allein verfügt heute über rund tausend Deponien, dazu noch zwei- bis dreihundert illegal angelegte Abfallplätze. Insbesondere die illegalen Deponien bereiten den Stadtregierungen wegen des mangelnden Grundwasserschutzes zunehmend Sorgen. Bis zum kommenden Jahr wollen an die 40 Grossstädte – darunter Shanghai, Peking, Tianjin, Shenzhen oder Chengdu – keine Abfälle mehr auf Deponien entsorgen. Sortieren, Recycling und Verbrennungsanlagen sollen den Abfall einigermassen umweltfreundlich entsorgen.
«Obligatorische Verpflichtung»
Liu Jianguo, Abfallexperte und Professor an der renommierten Pekinger Tsinghua-Universität, stellt fest, dass Chinesinnen und Chinesen noch «extrem wenig» umweltgerecht entsorgen. «Wir brauchen deshalb», sagt er, «ein Gesetz, das sicherstellt, dass das Sortieren von Abfall für alle eine obligatorische Verpflichtung wird.» In einer Studie des Forschungszentrums der Zentralregierung wird festgestellt, dass im vergangenen Jahr erst 38 Prozent aller chinesischen Haushalte Abfall getrennt entsorgt haben. Immerhin waren das gut elf Prozent mehr als 2017.
Die Zentralregierung investiert in 46 Pilot-Städten massiv Geld, um den Haushaltabfall wiederzuverwerten. Bis 2025 soll dann in dreihundert Grossstädten Abfalltrennung obligatorisch sein. Bislang hat der Recyclinggrad dank den Bemühungen der Zentral-, Provinz- und Lokalregierungen immerhin ein wenig zugenommen: von 20 Prozent zu Beginn des Jahrhunderts auf 35 Prozent heute. Plastiksäcke in Supermärkten und Einweggeschirr bei Garküchen und Take-outs sind längst verboten.
Bunte Tonnen
Die Leute zur Abfalltrennung zu überreden, sei sehr schwierig, meint Abfallexperte Liu Jianguo. Bei einer repräsentativen Umfrage gaben zwar 90 Prozent der Befragten an, dass Abfallsortierung «extrem wichtig» sei, doch 64 Prozent sagten, es mache keinen Sinn, weil beim Transport doch alles wieder zusammengeschüttet werde. Genau diese Erfahrung machte Ihr Korrespondent noch vor sechs Jahren in Peking. Fein säuberlich standen eines Tages rote, blaue, grüne und schwarze Abfallcontainer vor dem Haus für Karton, Papier, Glas, Haushaltabfälle, Batterien, Medikamente etc. Doch die schönen, bunten Tonnen wurden eine nach der andern in den grossen Müllwagen gekippt. Doch diese Zeiten sind heute vorbei.
Müll verbrennen
Neben dem Sortieren und Wiederverwerten, neben den Deponien sind Müllverbrennungsanlagen immer üblicher geworden. Meist werden sie auch zum Fernheizen und für Elektrizitätsgewinnung verwendet. In Peking sind derzeit 28 Anlagen in Betrieb, in ganz China rund 300. Bis Ende nächsten Jahres sollen nochmals mindestens 500 landesweit dazukommen. Derzeit landen 60 Prozent des Mülls auf Deponien, über 30 Prozent werden verbrannt. Bis 2030 sollte das Verhältnis nach Plan etwa 40 Prozent Deponie, 60 Prozent Verbrennungsanlage sein.
In Shanghai gilt es ernt
In Shanghai gilt es seit dem 1. Juli ernst. In der 25-Millionen-Metropole fallen täglich 28’000 Tonnen Müll an. Haushaltabfälle müssen jetzt obligatorisch getrennt werden. Bereits am ersten Tag gab es über sechshundert Verwarnungen und einige Bussen. Die Bussen für Personen belaufen sich auf 50 bis 200 Yuan, für Unternehmen, Hotels, Fabriken und dergleichen zwischen 5’000 und 50’000 Yuan (umgerechnet 720 bis 7’200 Franken). Für den getrennten Abfall stehe zu festgesetzten Zeitpunkten zugeordnete Plätze bereit.
QR-Codes
Auch die Digitalisierung hilft. In einigen Städten müssen bereits QR-Codes an den Abfallsäcken angebracht werden, damit Müllart und Quantität zurückverfolgt werden kann. Zudem hilft das Internet mit Apps von WeChat, Baidu oder Alipay, mit denen man Dutzende von verschiedenen Müllarten erkennen kann, also nass und kompostierbar, trocken, toxisch, wiederverwertbar und so weiter und so fort. Bereits nach drei Tagen meldete Alipay – Alibabas elektronisches Zahlungsmittel – eine Million App-Nutzer. Findige Start-ups benutzten den fahrenden Umwelt-Abfallzug und boten einen Müllabhol-Service an. Mit regelkonformer Abfalltrennung können sich Chinesinnen und Chinesen auch Pluspunkte beim Sozialen Kreditsystem verdienen.
Müllkippe der Welt
Weil China mit dem eigenen Müll mehr als genug zu tun hat, sind seit 2017 Müllimporte, hauptsächlich aus Europa und den USA, verboten. Betroffen waren zunächst 24 Abfallsorten, ab Dezember 2019 werden es 32 sein. Also etwa unsortierter Plastikabfall, Metall- und Elektroschrott, zusammengepresste Autos, Textilien, Elektromotoren. China will nicht die Müllkippe der Welt bleiben, denn auch ohne Abfall-Importe bleiben schwer zu lösende Hausaufgaben übrig. Noch immer werden, so Abfallexperte Liu Jianguo, über sechzig Prozent des jährlich anfallenden Hausmülls unbearbeitet deponiert. Noch bedenklicher: Nur 15 Prozent, so Chen Ying vom Umweltministerium, der jährlich anfallenden 40 Millionen Tonnen hochbelasteten Industrie- und Sondermülls werden umweltgerecht behandelt.
Gutes Gewissen
Die Schweiz sollte sich allerdings punkto Mülltrennung nicht allzu viel einbilden. Zwar kann alles fein säuberlich entsorgt werden, alles steht bereit. Das gibt ein gutes Gewissen. Doch was alles in die gebührenpflichtigen Abfallsäcke wandert, bleibe einmal dahingestellt. Auch die Müllsäcke werden nicht mehr überall abgeholt. Die Abfallsäcke müssen an zugeordneten Plätzen in (teure) Behälter deponiert werden. Auch hier machen Start-ups, zumal mit älteren Leuten, gute Geschäfte mit massgeschneiderten Abholservices.
Und: warum eigentlich wird – zu Recht – fürs Klima gestreikt, nicht aber gegen den anschwellenden Müll? Wo bleibt die Müll-Greta?