Der Diskurs über Migration und Diversität – sowohl in der Natur wie in der Kultur - ist imprägniert vom Jargon der Zugehörigkeit. Spricht man zum Beispiel von Biodiversität, meint man meist implizite einheimische Biodiversität und betrachtet fremde Fauna und Flora als „Eindringlinge“. In einem Überblicksartikel der Zeitschrift Environmental Research aus dem Jahre 2011 steht der Satz: „Exoten sind eine unnatürliche und unerwünschte Komponente in der Biota und Umwelt.“ Ein – wohl gemerkt - wissenschaftliches Organ lässt Ausdrücke wie „unnatürlich“ und „unerwünscht“ einfach so durchgehen!
Wohin gehören Kamele?
Anlass genug für den britischen Ökologen Ken Thompson, ein nachdenkliches und beherztes Buch zu schreiben mit dem Titel „Where do Camels Belong?“ (2014, leider keine deutsche Übersetzung). Als Kinder lasen wir in Tierbüchern: der Tiger lebt in Indien, das Känguruh in Australien, das Nilpferd in Afrika. Aber gehören sie auch dahin, wo sie leben? Fragen wie „Wohin gehören Kamele?“, so Thompson, lassen sich nicht eindeutig beantworten, weil sie in der Regel von stillschweigenden Kriterien bestimmt sind. Bei Kamelen sind das mindestens vier: Wo entwickelten sie sich zuerst? Wo kommen sie in den letzten Jahrtausenden am häufigsten vor? Wo gibt es sie in grösster Diversität? Wo leben sie wild? Die Antworten sind entsprechend unterschiedlich: Nordamerika, Asien und Nordafrika, Südamerika, Australien. Ohne hier in die zoologischen Details zu gehen, sticht ins Auge, dass die Frage der Hingehörigkeit selbst unter Biologen nicht neutral ist. Und sie ist es erst recht nicht, wenn es um Menschen geht. Der Jargon der Zugehörigkeit ist ein Minenfeld von Voreingenommenheiten und Fehlschlüssen.
Verwechseln von Korrelation und Kausalität
Als erstes fällt oft ein impliziter Fehlschluss auf: die Verwechslung von Korrelation und Kausalität, bekannt auch unter dem Begriff „Confounding“. Die Unlogik: Zunahme der fremden Art X ist korreliert mit einer Abnahme der einheimischen Art Y, ergo verursacht der Eindringling X das Verschwinden der einheimischen Art Y, wenn beide im gleichen Zeitraum auftreten.
Ein Beispiel. Der amerikanische Nerz wurde in Grossbritannien als Felllieferant für die Pelzindistrie eingeführt. Bei zahlreichen Gelegenheiten gelang es ihm, aus den Gehegen auszubrechen und eine wilde Population zu schaffen, die sich seit 1950 ständig ausbreitete; mit negativen Folgen für die einheimische Fauna, etwa für die Schermaus oder am Boden nistende Vogelarten. Zur selben Zeit, als sich der Nerz ausbreitete, sank die Zahl der Fischotter und schnell setzte sich die Meinung durch, die „Schuld“ liege beim Fremdling. Tatsächlich gibt es aber zwischen den beiden Arten kaum eine Nahrungskonkurrenz. Und es stellte sich heraus, dass der Rückgang in der Fischotterpopulation eine andere Ursache hatte, nämlich die Verschmutzung der Gewässer durch Chlorpestizide. Nach dem Verbot dieser Substanzen erholte sich die Fischotterpopulation. Der erste, der offensichtliche Eindruck war also falsch. Der vermutete kausale Zusammenhang zwischen den Arten erwies sich als Ignoranz über einen menschlichen Eingriff in die Umwelt. Daraus liesse sich eine einfache Lektion ziehen: Bevor du eine fremde Art zur Fauna oder Flora non grata schlägst, schau genau hin, ob sie das Problem ist, und nicht bloss Symptom eines zugrundeliegenden Umweltproblems.
Schadensunterstellung: Reduktion der Biodiversität
Ein zweites Merkmal ist die Schadensunterstellung: Invasive Arten reduzieren die Biodiversität. Die Behauptung hat Mantra-Charakter, aber die Evidenzlage ist alles andere als klar. Aufmerksamkeit beanspruchen natürlich jene Arten, die sich erfolgreich auf Kosten anderer durchgesetzt und die Biodiversität verringert haben - „Plagen“ wie der Star oder der asiatische Marienkäfer, Riesenbärenklau oder japanischer Knöterich. In der Tat sind Bilder spektakulär und alarmierend, die zeigen, wie der Knöterich ganze Gebiete „kolonisiert“. Aber was sagt das aus? Wie repräsentativ ist das lokale Vorkommen eines dominanten Eindringlings für das Gesamtbild? Hier, so Thompson, liessen sich Biologen leicht von einer Voreingenommenheit leiten, indem sie für ihre Studien Gebiete mit bereits hohem Bestand an einer fremden und agressiven Art X aussuchen. Andere Forscher untersuchen ein Gebiet mit weniger X und stellen auch weniger – oder überhaupt keine - Verdrängung anderer Arten fest. Kurz: „Je genauer wir schauen, desto weniger finden wir. Anders gesagt, wir wissen überhaupt nichts über die Auswirkungen von mindestens 99 Prozent aller fremden Pflanzen, und nahezu nichts über das restliche Prozent. (..) Wir wissen oft nicht, was fremd ist und was einheimisch, und manchmal wissen wir nicht einmal, was wir mit ‚fremd’ und ‚einheimisch’ meinen. Und sogar wenn wir sicher sind, dass etwas fremd ist, sind wir nicht sicher, ob es ein Problem darstellt oder nicht.“
Der moralische Unterton
In einer solchen Situation der Ungewissheit kommt natürlich ein drittes Merkmal zum Zug: der normative Charakter des Zugehörigkeitsjargons. „Da gehörst du hin“ heisst insgeheim „Da sollst du hingehören!“ Das schafft Komplexitätsreduktion. Nur schon der Begriff „schädlich“ schneidet scharf in das Gestrüpp von Umweltproblemen. Noch schärfer sind moralische Schnitte: Eindringlinge bösartig - Einheimische gutartig. „Britische Lebewesen kämpfen um ihr Überleben in Flüssen und auf Wiesen, wenn Aliens die Bühne betreten und Invasion aufführen“, lautet ein Head der britischen Zeitung Independent schon 1996. Und der Artikel beginnt so: „Eine Invasion von Ausländern ist im Gange, die unsere einheimischen Arten mit Tod und Krankheit bedrohen. Tierische Schurken aus allen Ecken der Welt haben Grossbritannien kolonisiert, sie vermehren sich mit Leichtigkeit, trotz der oft feindlichen Umwelt, die sich von jener in den Herkunftsländern ziemlich unterscheidet“. Der genügsame Blutweiderich fand in der englischen Presse solch schmeichelhafte Bezeichnungen wie „Eindringling“, „“Gefahr“, „Schädling“, „Pest“, „Monster“, „Zeitbombe“, „Staatsfeind Nummer eins“, „Freddy Krueger der Pflanzen“.
Zwei Schweizer Politiker
Die mediale Hysterie wäre zum Totlachen, fände sie nicht einen Resonanzboden in der dumpfen Empfindungslage einer verunsicherten Bevölkerung. Schon seit langem greift der Jargon der Zugehörigkeit von der Natur über auf Kultur und Gesellschaft. Und hier verliert er definitiv seine Unschuld. „Multikulti zerstört Vielfalt“ liess sich vor nicht allzu langer Zeit ein zum Dichter berufener Politiker aus dem Wallis in einem Blog vernehmen. Echte Kultur verlange „Tiefe, Dauer, Verankerung in eine Kulturlandschaft mit ihrer Geschichte“, „echtes Erleben sich selbst treu gebliebener Menschen in ihrem originellen Umfeld. Alltag in Bombay, Mexiko oder Tunis, ohne Schein, ohne Sich-zur-Schau-stellen. Wirkliches Leben. Verbindlichkeit. Oftmals Armut, Tragik der Existenz, Ungerechtigkeit. Das allein verspricht Vielfalt.“ Man höre genau hin: Nur jener Migrant ist ein „sich selbst treu bleibender Mensch“, der sein Dasein im „originellen Umfeld“ fristet, das heisst in Armut, Ungerechtigkeit und Elend. Sein blumiges Plädoyer für „echte“ Multikultur geriet dem Politiker-Poet zur unverblümt zynischen Authentizitätsfaselei.
Auch die Schweizer Bundespolitik ist bereits vom Jargon der Zugehörigkeit infiziert. Das dokumentiert eine Interpellation von Nationalrat Dominique Baettig im Jahre 2009. Er, der schon früher als Anwalt einheimischer Kartoffelsorten aufgetreten war (weiss er, dass die Kartoffel im 18. Jahrhundert von den Bauern als „Teufelsbirne“ dämonisiert wurde?), gelangte an den Bundesrat mit der Anfrage „Folgekosten des Eindringens gebietsfremder Arten“. Er berief sich dabei auf eine gesamteuropäische Studie über die zu erwartenden Kosten bei der Behebung von Schäden, die durch die „Ausmerzung eingeschleppter Pflanzen“ verursacht würden. Im Wortlaut: „Könnte der Bundesrat, ähnlich wie für die Tier- und Pflanzenarten, eine Einschätzung der ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Migrationsbewegungen (..) durchführen?“ Dem strammen Politiker war die metaphorische Sicherung durchgebrannt: auf Nachfrage bestätigte er, dass Migrationsbewegungen von Menschen gemeint seien.
Die Metaphysik des „natürlichen Ortes“
Im Jargon der Zugehörigkeit drückt sich unser Ordnungsbedürfnis aus. Jedes Ding, jedes Lebewesen, jeder Mensch hat sein „Zuhause“. Die Idee führt zurück zum aristotelischen Kosmos, zu seiner Philosophie des „natürlichen Ortes“, des angestammtem „oikos“. Die Virulenz dieser Metaphysik der Zugehörigkeit sollte gerade heute nicht unterschätzt werden, in einer Zeit, da viele Menschen „ihre“ Orte – und damit letztlich auch ihre Identitäten - verlieren oder zu verlieren fürchten. Wir orientieren uns gerne an der Natur, um aus ihr eine „natürliche“ Ordnung herauszulesen, mit Kategorien wie Bodenständigkeit, Eingesessenheit, Integriertheit. Es gibt Biologen, die daraus ethische Diskriminierung ableiten, zum Beispiel James C. Russell aus Neuseeland: „Unsere ethische Pflicht gegenüber nichteinheimischen Arten unterscheidet sich von unserer Pflicht gegenüber einheimischen Arten.“
Ab in den ideologischen Giftschrank
Und genau das ist der Pferdefuss. Zweifellos sind in vielen Gebieten Tier- und Pflanzenarten verschwunden, weil der Mensch neue Arten eingeführt oder eingeschleppt hat. Statt aber gewisse nichteinheimische Arten wie eine lebende Umweltverschmutzung zu betrachten, erschiene es angezeigter, die Umwelt selbst darauf zu prüfen, wie sie sich gewandelt hat. Sind Eindringlinge per se Schädlinge oder tragen sie auch zur Biodiversität bei? Unter Ökologen wird heftig diskutiert, was man überhaupt unter einem „natürlichen“ oder „ungestörten“ Ökosystem verstehen soll. Und von da her gesehen wäre es vielleicht des Nachdenkens wert, ob es noch zeitgemäss sei, die „Unberührtheit“ der Natur (oder der Kultur) als Abwesenheit nichteinheimischer Arten zu definieren. Schmutz ist bekanntlich Materie am falschen Ort. „Verschmutzende“ Arten sind Leben am falschen Ort. Aber die Natur kennt keine „falschen“ Orte. Das ist ein vom Menschen in sie hineinprojizierter Begriff. Wir erkennen oft nicht, dass wir unsere Ideologien quasi „naturalisieren“, um sie dann von der Natur zurück auf die Gesellschaft zu übertragen. Ein klassischer Zirkelschluss, der sein Unheil gerade inkognito anrichtet. Artenschutz mag ein lobenswerter Imperativ sein, aber schützen wir uns zuerst vor dem „invasiven“ Jargon der Zugehörigkeit. Er gehört deutlich gekennzeichnet in den ideologischen Giftschrank gesperrt.