Wenn es Ghadhafi gelingt, aus Tripolis zu entfliehen, oder falls er schon aus der Stadt geflohen sein sollte, dürfte er in der Lage sein, sich bis zur seiner Heimatstadt, Sirte, oder bis Sabha, der südlich davon gelegenen Hauptstadt der Wüsten und Oasen Provinz, Fezzan, durchzuschlagen oder zu schmuggeln.
Dort besitzt er noch immer grössere Gruppen von Anhängern und Militärbasen mit Waffenlagern, so dass er von dort aus einen Guerilla Krieg oder auch, wenn ihm dazu die Mittel fehlen, einen Terrorkrieg mit Bomben und Anschlägen eröffnen könnte.
Die Gefahren eines langfristigen Ringens
Solch ein Krieg, auch wenn er ihn zuletzt verlieren sollte, würde alle Aufbauarbeit an einem neuen libyschen Staat sehr erschweren oder sogar weitgehend verhindern. Die Mittel und die Aufmerksamkeit des heutigen Übergangsregimes würden weiterhin primär von der Kriegslage in Anspruch genommen. Die Bevölkerung müsste weiter kämpfen, statt sich den dringenden Aufgaben einer Befriedung, Versöhnung und dem Aufbau einer libyschen Bürgergesellschaft zu widmen.
Auch die Erdölwirtschaft könnte nicht wieder aufgebaut werden, solange Risiken neuer Zerstörungen, etwa der beschädigten Rohrleitungen, bestehen. Der neue libysche Staat müsste von seinen Reserven leben, und diese würden rasch versiegen.
Krieg verhindert konstruktive Entwicklungen
Vor allem aber würden die Kriegsmentalität und die ihr entsprechenden Lebensformen andauern. Und je länger der Krieg dominiert, desto schwieriger wird es für die libysche Gesellschaft werden, den Weg zurück zu einem produktiven, aufbauenden Staatswesen und zur Versöhnung der Libyer zu finden.
Umgekehrt, falls Ghadhafi umkommt oder gefangen wird, kann die Aufbauarbeit sofort beginnen. Die Übergangsregierung wird grosse Aufgaben meistern müssen: zuerst Ruhe und Ordnung in den Städten und auf dem Lande herstellen. Dazu braucht sie eine neue Polizei, die darauf geschult werden müsste, für die Sicherheit und die Rechte der Bevölkerung einzustehen, nicht für jene des Machthabers. Ruhe und Ordnung müssen aber auch durch Versöhnungsmassnahmen und durch den Beweis der Parteilosigkeit der Regierung gewonnen werden. Unter Ghadhafi hatte 40 Jahre lang das Gegenteil vorgeherrscht: Parteinahme und Spaltungsbestreben.
Libyen wird auch eine neue Armee benötigen, nicht sehr gross aber ebenfalls unparteiisch. Die vielen Waffen der heutigen Kämpfer müssten möglichst schnell eingesammelt und dem Staat übergeben werden.
Erste politische Schritte
Parallel zu den Sicherheitsfragen müssten auch die ersten Schritte für eine neue politische Ordnung vollzogen werden:
Der Umzug der Provisorischen Regierung nach Tripolis und ihre Erweiterung zum Einschluss tripolitanischer Persönlichkeiten
Vorbereitungen zu einem definitiven neuen Regime: die Bildung von Parteien, Formulierung einer Verfassung, Vorbereitung von Wahlen
Erneuerung der Bürokratie und Ausschluss der Ghadhafigefolgschaft
Restrukturierung der Gerichte und des gesamten Rechtswesens
All diese gewaltigen Aufgaben können schlechterdings nicht gelöst, ja kaum in Angriff genommen werden, wenn der Krieg nicht beendet werden kann, sondern als Guerilla und Terrorkrieg auf unbestimmte Zeit weiter schwelt.
Ein Krieg aber wird fast unvermeidlich, falls Ghadhafi aus Tripolis entkommen kann oder bereits entkommen sein sollte. Die Übergangsregierung in Benghazi hat mit einigen Stämmen und Stammesführern im Raum von Sirte und Sabha Kontakt aufgenommen, um vor einem Krieg zu warnen, der ganz sicher auch jene Regionen ins Elend zu stürzen würde.
Auch die Regierung von Benghazi hat Parteigänger in beiden Gebieten. Möglicherweise gelingt es diesen und jenen Stammesführern, die mit ihnen zusammenarbeiten, den Beginn eines Guerilla- und Terrorkrieges, der von ihren Gebieten ausgehen würde, zu unterbinden. Doch wenn Ghadhafi persönlich dort auftauchen sollte, werden sie einen schweren Stand gegen ihn haben.