Vordergründig ging es um Verfahrensfragen: Darf die Bundesregierung weitreichende finanzpolitische Entscheidungen treffen, ohne dass das Parlament jeden einzelnen Punkt in Plenardebatten diskutiert?
Im Prinzip ist das möglich, solange der Haushaltsausschuss den Entscheidungen zustimmt. Aber die Bundesregierung darf nicht ohne die ausdrückliche Zustimmung des Bundestages weitreichende finanzpolitische Befugnisse auf supranationale Einrichtungen übertragen.
Die Glaubwürdigkeit der Politiker
Die Klage des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler und einer Gruppe von Ökonomie- und Juraprofessoren wurde damit abgewiesen, aber das Urteil bekräftigt zugleich die Verpflichtung der Abgeordneten, ihre Mitwirkungspflichten an den finanzpolitischen Entscheidungen wahrzunehmen. Damit ist die Vorstellung des Finanzministers Wolfgang Schäuble, bei eilbedürftigen Entscheidungen genüge eine Information des Haushaltsausschusses, vom Tisch.
Klage und Urteil richten sich auf Verfahren, faktisch aber geht es um wesentlich mehr: die Glaubwürdigkeit der Politiker. Die schwindet noch rascher als der Wert des Euro. Die Kanzlerin hat sogar in ihrer eigenen Partei an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Wenn die neuen Rettungsmassnahmen zur Abstimmung stehen, wackelt die Kanzlermehrheit. Das hat in dieser Woche eine Probeabstimmung ergeben.
Wechselnde Begründungen
In dieser Situation sehnt sich das Publikum nach etwas, das Altvordere wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl als „inneren Kompass“ bezeichnen. Natürlich wissen auch diejenigen, die diese Orientierung anmahnen, dass es mit einem vergleichsweise einfachen Kompass nicht getan ist. Dennoch hat der Eindruck der Orientierungslosigkeit seine Berechtigung.
Man muss nur einmal auf die Begründungen schauen, die für weitreichende politische Entscheidungen abgegeben werden. Erst hiess es, Irland und Griechenland sei zu helfen. Das sei eigentlich eine Petitesse. Nachdem die dafür vorgesehenen Beträge sich im Laufe eines Jahres nahezu verzehnfacht hatten, wurde von der „Rettung“ dieser Länder gesprochen. Und nun geht es um die „Rettung des Euro“.
Damit nicht genug. Mit dem Euro soll die „Einheit Europas“ gerettet werden. Man weiss also gar nicht mehr, ob die Regierung gerade über Finanzen oder politische Zielvorstellungen redet. Beides wird so miteinander vermengt, dass die Abgeordneten gar nicht mehr darüber diskutieren können, ob das weitere Verpulvern von Volksvermögen sinnvoll ist oder nicht. Wer dagegen ist, ist gegen Europa. Punkt.
Elementare Verlässlichkeit
Würde das, was Helmut Kohl mit „innerem Kompass“ gemeint hat und was so viele genauso wie er vermissen, weiterhelfen? Ausdrücklich hat sich Kohl in seinem viel zitierten Interview in der Fachzeitschrift Internationale Politik im August 2011 gegen das Argument gewehrt, die heutige Welt sei eben komplexer als die frühere – seine ! - und daher liessen sich Entscheidungen nicht mehr nach den Ausschlägen persönlicher Kompasse treffen. Ob Kohls Kompass immer so klar erkennbar war, sei dahingestellt. Heute aber tritt ein Problem hervor, das sich in den Zeiten relativer Ruhe übergehen liess. Und zwar geht es um die „hidden agenda“ jedes Politikers.
Verlässlichkeit ist im täglichen Leben jedes Einzelnen eine entscheidende Grösse. Wir wissen, nach welchen Kriterien die uns nahen Menschen entscheiden. So wird von ihnen immer mehr oder weniger dasselbe für den täglichen Bedarf eingekauft, und wenn Freunde einladen, muss man sich nicht überlegen, was sie „in Wirklichkeit“ damit bezwecken. Diese elementare Verlässlichkeit ist in der aktuellen Politik zumindest auf der Regierungsebene verloren gegangen. Begründungen haben instrumentellen Charakter, sie sind austauschbar und dienen eigentlich nur noch der Abwiegelung von Unruhe.
Was meint "Rettung"?
Und so wird die Situation immer beunruhigender. Inzwischen geht es nicht mehr nur darum, ob Politiker die Reichweite ihrer eigenen Entscheidungen abschätzen können, sondern es geht vor allem um die Frage, ob sie wirklich das bezwecken, was sie als Ziel ihres Handelns dem Publikum und nicht zuletzt den Abgeordneten ihrer eigenen Fraktionen angeben.
Man wird an die Religionskritik alten Stils erinnert, die den Geistlichen vorwarf, einen Glauben zu verkünden, den sie selbst schon lange nicht mehr haben. Meinen Merkel und Co. mit „Rettung“ mehr als das Abwenden einer persönlichen Niederlage? Ist die Politik deswegen immer häufiger „ohne Alternative“?