Ukraine, Gaza, Irak. Und dann auch noch Geri Müller. Die Aufnahmefähigkeit der Öffentlichkeit ist an ihre Grenzen gelangt. Aber als kleiner Beitrag zum bilateralen Verhältnis EU-Schweiz die Frage: Wie geht’s der Eurozone denn eigentlich? Da war doch so ein kleiner Rumpler mit einer portugiesischen Bank. Aber so im Allgemeinen geht’s doch aufwärts. Oder nicht?
Chronisch statt Krise
Wenn man sich an Krisen gewöhnt hat, dann werden sie zum chronischen Begleiter und deswegen nicht mehr als einzelne Krisen wahrgenommen. Deutschlands Wirtschaftswachstum lahmt, Griechenland ist eher mehr, nicht weniger pleite als vor sechs Jahren, Italiens Staatsschulden wachsen weiter rasant, Frankreich lahmt und wankt, Spanien ist weit davon entfernt, die Folgen seiner Immobilienkrise verarbeitet zu haben. Turmhohe Jugendarbeitslosigkeit, teilweise bedenkliche Sockelarbeitslosigkeit der ganzen Bevölkerung, und vor allem: kein Wachstum, keine Wende.
Wie hat das ein Ökonom auf den Punkt gebracht: Europa, also genauer die EU, bekämpft ein Nachfrageproblem mit einer Angebotspolitik. Das bedeutet, kurz gefasst: Niemand kauft oder investiert so richtig? Na, dann stellen wir doch einfach mehr Produkte her und geben den Banken Gratisgeld. Niemand wollte absaufenden Euro-Staaten im Süden ihre Schuldpapiere zu finanzierbaren Zinssätzen abkaufen? Na, dann übernimmt doch einfach die Notenbank EZB deren Garantie.
Damit haben wir keine Krise, sondern einen chronischen Zustand erreicht. Und bei chronischen Erkrankungen regt sich niemand auf, wenn keine Wende zum Besseren in Sicht ist. Es reicht der Hinweis, dass es schliesslich schon ein Weilchen her ist, dass in einer Notfallübung ein Euro-Staat vor dem Ersaufen gerettet werden musste. Fiskalunion, Bankenunion, Schuldenschnitt, Entsorgung von Zombie-Banken, Wende, Konjunktur, Aufschwung? Aber bitte, nur nicht hektisch werden! Es könnte doch auch viel schlimmer sein. Und überhaupt, wenn nichts hilft, gibt es immer einen Ausweg.
Schlamassel zuhause, Problem draussen
Seit es so etwas wie staatlich geregelte Gemeinschaften gibt, und wohl auch vorher, gibt es ein Allerheilmittel, von hausgemachten und dringenden Problemen abzulenken. Die viel grössere Krise draussen. Wer wagt es, von den Auswirkungen der Strafsanktionen gegen Russland auf die deutsche, französische, portugiesische, griechische, überhaupt auf die Euro-Wirtschaft zu reden? Was wäre das für eine Krämerseele. Schliesslich muss jetzt Deutschlands Freiheit, überhaupt Europa nicht mehr am Hindukusch, sondern in der Ukraine verteidigt werden. Dazu noch das Völkerrecht, das Menschenrecht, die Demokratie, also im Grunde die Zivilisation gegen die Barbarei.
Eigentlich sollte Europa jetzt mal wieder keine Parteien, sondern nur noch Europäer kennen, um ein schönes Wort von Wilhelm II. zu paraphrasieren. Das muss doch auch jeder arbeitslose Jugendliche, überhaupt jeder Angestellte einsehen, dass es jetzt nicht der Moment ist, sich über sein eigenes Schicksal oder gar über seine Rente Sorgen zu machen. Und sollte es in Europa, wie in der Ukraine schon jetzt, im nächsten Winter an warmem Wasser fehlen – angesichts viel wichtigerer Probleme können höchstens Warmduscher daran auch nur einen Gedanken verschwenden.
Zahlen, Zahlen, ach, Zahlen
Deutschlands Wirtschaft ist im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent geschrumpft. Damit schneidet die viel gerühmte Lokomotive zum ersten Mal seit 2009 schlechter als der Durchschnitt der Eurozone ab. Die brachte es allerdings auch nur auf 0,0 Prozent, was man euphemistisch als Nullwachstum bezeichnet. Nach jeweils letzten erhältlichen Zahlen liegt die Arbeitslosigkeit in Griechenland bei 26,5 Prozent, in Spanien bei 25,5 Prozent, im Euro-Durchschnitt bei 11,8 Prozent. Frankreich wankt in eine Deflation (die Verbraucherpreise sanken im Monatsvergleich im Juli um 0,3 Prozent), Italiens Wirtschaft schrumpfte wie die deutsche um 0,2 Prozent, wie Frankreich mit Deflationstendenz.
Dazu kommt eine durchschnittliche Staatsverschuldung der Euro-Länder von 96 Prozent des BIP (Maastricht-Kriterium: maximal 60 Prozent). Die Jubelmeldungen, dass Spanien und Portugal den Rettungsschirm verlassen konnten, hören sich nur wenige Monate später wie ein fahles Echo aus längst vergangenen Zeiten an. Dabei ist klar: Wenn’s gerade mal nicht explodiert, mit viel Krach und Geschrei, dann implodiert es, ohne grossen Lärm oder Gezeter.
Hau drauf
In der grossartigen US-Politsatire «Wag the dog» gibt es eine Szene, in der ein Chefberater des amtierenden Präsidenten mit sinkenden Umfragewerten und gröberen innenpolitischen Problemen konfrontiert wird. Ausserdem sei es der Wirtschaft auch schon mal besser gegangen. Nach kurzem Nachdenken antwortet er: «Ich habe die Lösung. Wir sind im Krieg.» Die anderen Berater wenden ein, dass ihnen das aber entgangen sein müsse, und gegen wen eigentlich? Darauf antwortet der Chefberater: «Daran arbeite ich noch.»
Nun darf man Realsatire natürlich nicht mit der Realität verwechseln. Denn das würde ja bedeuten, dass die EU an einem Krieg in der Ukraine arbeitet, um von gröberen wirtschaftlichen Problemen zu Hause abzulenken. Auf der anderen Seite: Wenn die Realität zur Satire verkommt, hat man manchmal Mühe, das eine vom anderen zu unterscheiden.