«Wahlkampf ist die Fortsetzung eines Bürgerkriegs mit anderen Mitteln.» Dieses treffende Zitat wird dem britischen Staatsmann Benjamin Disraeli zugeschrieben, der vor 215 Jahren zur Welt kam. Wie aktuell ist das heute noch, insbesondere bei uns?
Die Schweiz wird zum Glück weder von Kriegen noch von Bürgerkriegen heimgesucht. Doch der Wahlkampf 2019 hat ein Problem – er ist nirgends zu finden. Er fehlt geradezu. Ob sich im Oktober die Stimmung vor den Wahlen noch aufheizt, bleibt abzuwarten. Am meisten fehle ihm, sagt Georg Lutz, Forscher am Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften in Lausanne, «das Drum und Dran von nationalen Wahlen». In anderen Jahren hätten Kandidierende hier ein Gratis-Gipfeli, dort einen Kaffee, einen Kugelschreiber oder ein Heftpflaster verteilt. Das Duschgel von Doris Leuthard hat wohl niemand vergessen.
Wahlen als Volksfest mit Attraktionen, ausgedacht von Werbeagenturen, Parteisekretariaten oder am Küchentisch. Dies wird allmählich sehr teuer und zielt manchmal am Ziel vorbei – ins Lächerliche. Es hat Fälle gegeben, wo es hiess, der Kandidat (immer ein Mann) habe eine Million für einen Sitz im Nationalrat investiert. Und einer, der es mit dem Wahlkampf nicht so ernst meinte, sagte gar, für seine Firmenpropaganda hätte er viel mehr ausgeben müssen.
Die Parteien haben zögerlich ein wenig enthüllt, wie hoch ihre Budgets sind, mit Ausnahme der Partei mit dem höchsten Budget. Das viele Geld, das eine Wahlzeitung mit zwei Bünden kostet, in jeden Briefkasten der Schweiz verteilt, hätte manchen Wohltätigkeitsorganisationen viel mehr gebracht. Im Allgemeinen sind die Drucksachen vor den nationalen Wahlen so langweilig, dass sie gerne ungelesen im Altpapier landen.
Stabil und grün
2019 wird ein grosser Wechsel im Ständerat erfolgen. Im Nationalrat bleiben erstaunlich viele Abgeordnete sitzen. Das habe nichts zu bedeuten, sagt der Politikwissenschaftler Lutz. Das wechsle von Wahl zu Wahl und ändere nicht viel. «Unsere Wahlen sind sehr stabil», sagt er. «Die Wahlen 2015 waren die stabilsten seit 1967.»
Das dürfte auch im Oktober so herauskommen. «Es wird bei den Wahlen 2019 voraussichtlich bei den Wähleranteilen keine allzu grossen Verschiebungen innerhalb der Bundesratsparteien geben», prognostiziert auch der Politikwissenschaftler Thomas Milic vom Zentrum für Demokratie an der Universität Zürich. Politische Stabilität gehöre zu den Schweizer Standortvorteilen.
Lutz dazu: «Unterschiede von 0,1 bis 2 Prozentpunkten im Wähleranteil werden bei uns bereits als Erdrutsch bezeichnet.» In der Schweiz bleibt das meiste gemächlicher und schlägt sich nicht unbedingt in grossen politischen Bewegungen nieder. «Der Rechtsrutsch von 2015 war eigentlich keiner», resümiert Georg Lutz. «Die SVP und die FDP gewannen zusammen mit kleineren Rechtsparteien zwar eine Mehrheit, aber das zeigte sich in vielen Abstimmungen im Parlament nicht wirklich.»
Und dieses Jahr? «2019 wird es kaum den viel zitierten Linksrutsch geben, auch wenn die grünen Parteien zulegen. Die SP bleibt konstant.» Etwas meinen die Politikwissenschaftler jedoch vorauszusehen: Grün bleibt aktuell. Thomas Milic: «Der Höhenflug der Grünen und der Grünliberalen wird bestehen bleiben.»
Kein Paradigmenwechsel in Sicht
Neueste Umfragen sagen überdies voraus, dass die Grünen sogar die CVP überflügeln könnten. Milic präzisiert: «Umfragen allein sind nicht massgebend für die Abbildung der Situation. Man muss das Gesamtbild betrachten, um zu einer Prognose zu gelangen. 2015 waren die Umfragen recht genau.» Auch wenn sie diesmal korrekt sind: Der Bundesratssitz von Viola Amherd ist sicher nicht gefährdet. Es dürfte noch lange dauern und viele Debatten erfordern, Überzeugungsarbeit im Hintergrund und Beeinflussung der Öffentlichkeit, bis es einen Bundesrat Glättli oder eine Bundesrätin Rytz gibt, so die Experten.
«Auch bei uns ist spürbar, dass die grossen Volksparteien ein wenig an Bedeutung verloren haben», stellt Thomas Milic fest. Und Georg Lutz macht eine weitere Beobachtung: «Die Gründerväter hätten sich kaum träumen lassen, dass FDP und CVP einst als Mitte-Parteien bezeichnet würden.»
Klimawandel als Topthema
Vor vier Jahren befeuerte in der Schweiz die in Deutschland präsente Flüchtlingskrise hitzige Debatten um das Thema Migration. Dieses Jahr weilt das Thema im Hintergrund und wird nicht mehr vordringlich bewirtschaftet, ausser von der SVP und einigen anderen kleineren oder grösseren Rechtsparteien.
Das vorherrschende Thema ist dieses Jahr der Klimawandel. Die Katastrophe von Fukushima besetzte vor Jahren die Energie-Debatte, diesmal haben auch Schülerinnen und Schüler diesen Diskurs mit ihren Freitagsdemonstrationen mitten in die Gemüter geführt. «Nicht alle Parteien und längst nicht alle Abstimmenden sind vom Klimawandel beziehungsweise vom durch Menschen verursachten Klimawandel überzeugt. Davon könnte die SVP, die beinahe als einzige Partei diese Position vertritt, durchaus profitieren», sagt Milic.
Es gebe noch andere Diskurse, die vor den Wahlen und sicher auch nachher dominierend sind. «Zu den wichtigen Themen des erneuerten Parlaments in der nächsten Legislatur werden ausser dem Klimawandel und der Migration auch die AHV und natürlich unser Verhältnis zu Europa gehören.»
Ereignisse im Ausland, so wiederum Lutz, «zeigen natürlich einen gewissen Einfluss auf die Wählenden in der Schweiz. Der Konflikt rund um den Brexit beeinflusst jedoch nicht die Meinung der Bürgerinnen und Bürger über das Verhältnis der Schweiz zur EU.» Dennoch: «Verändert haben sich die Informationsmöglichkeiten der Wählenden. Das Internet spielt dabei eine grosse Rolle», ist Thomas Milic überzeugt.
Gesittet und ruhig
Eine grosse Sorge ist, ob es mehr Frauen als vor vier Jahren schaffen werden, ins Parlament gewählt zu werden, besonders ins «Stöckli». Das liegt nicht nur in der Hand der Abstimmenden, sagt Thomas Milic, der dieses Thema schon anhand von Regierungsratswahlen bearbeitete: «Frauen haben die gleichen Wahlchancen wie Männer. Aber ich habe bei Untersuchungen von Regierungsratswahlen feststellen müssen, dass sich zu wenige Frauen für eine Kandidatur bereit erklären.»
Wird das neue Parlament aggressiver werden als das bisherige? Georg Lutz macht sich diesbezüglich keine Sorgen: «Der Stil im Parlament ist trotz einigen lauten Abgeordneten keineswegs aggressiver geworden, auch nicht die Wahlpropaganda. Verglichen mit Auseinandersetzungen in den dreissiger Jahren und den kämpferischen Plakaten von früher geht es heute so gesittet zu wie zu Anfang.»
Gesittet ist das Schlagwort. Verglichen mit dem Tohuwabohu in London in der «Mutter aller Parlamente» leben wir wohl wirklich auf einer Insel der Glückseligen. Vor allem leben wir in einer stabilen Demokratie, erklärt Thomas Milic: «Eine Demokratie ist ein politisches System, in welchem sich das Volk durch Wahlen und Abstimmungen massgeblich an der Gestaltung der Politik beteiligt.»
Dieser Artikel erschien erstmals am 20. September im Jüdischen Wochenmagazin «Tachles».