Wo bleibt Antigone? Der Name ist der Titel der Installation mit der genau 60 Minuten dauernden parallelen Projektion zweier analoger 35-mm-Filme von Tacita Dean (geboren1965). Doch wir begegnen der Figur des griechischen Mythos-Kreises Ödipus-Theben-Kreon nicht. Wir hören irgendwann, ohne dass dies angekündigt würde, Antigones Stimme – jene der älteren Schwester der Künstlerin. Sie trägt diesen Namen. Sie sagt zum Beispiel: „Wo es mir an Licht fehlt, schweige ich.“ Warum heisst sie Antigone? Tacita Deans Vater antwortete auf diese Frage der Tochter, weil Antigone die erste Feministin gewesen sei.
Ein feministischer Film ist „Antigone“ nicht. Was Antigone zur frühen Feministin machen könnte, bleibt ausgeklammert – ihre Rebellion gegen König Kreon, der ihr verbietet, ihrem toten Bruder Polyneikes das erlösende Begräbnis zu bereiten. Es geht auch nicht um übliches Kino, obwohl wir in bequemen Sesseln sitzen, sondern um einen anspruchsvollen Experimentalfilm, der die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher in hohem Masse fordert. Ein kurzes Hineinschauen in den Saal bringt nichts. Das Kunstmuseum Basel Gegenwart bittet denn auch die Besucherinnen und Besucher, sich pünktlich bei Filmbeginn (immer zur vollen Stunde) einzufinden und die ganze Stunde auszuharren.
„Antigone“, ein Langzeit-Werk, mit dem sich Tacita Dean während mehr als 20 Jahren auseinandersetzte, markiert damit einen extremen Gegensatz zur Praxis üblicher Ausstellungs- und Museumsbesuche: Viele Leute verweilen ja jeweils höchstens eine Minute vor einem Bild – und glauben erst noch, sie hätten dessen Dimension erfasst.
Blendung und Blindheit
Raschem Konsum verweigert sich Tacita Dean. Schon eines der wichtigsten Strukturelemente erschliesst sich erst im Verlauf der ganzen Stunde. Es sind Aufnahmen der totalen Sonnenfinsternis, die Tacita Dean im Jahr 2017 in Wyoming in den USA gemacht hat.
Immer wieder erscheint das Bild der Sonne im Film. Nach 30 Minuten ist die Sonnenfinsternis total. Vorher und nachher sehen wir das Vorbeigleiten des Mondes vor der Sonnenscheibe.
Das gibt „Antigone“ einen zyklischen Charakter. Folgerichtig baut Tacita Dean auch andere Bildelemente zyklisch in ihren Film ein. Das alles ist nun allerdings mehr als nur „Mathematik“ im Ablauf des Films, denn die Sonnenfinsternis rührt an das Hauptthema von „Antigone“ – an Blendung und Blindheit. Darauf zielt auch der erwähnte Satz von Tacita Deans Schwester Antigone ab: „Wo es mir an Licht fehlt, schweige ich.“
„Antigone“, wohl das bedeutendste und vielschichtigste Werk der Künstlerin, ist sehr persönlich und intim. „Antigone“ ist eins der ersten Wörter, das Tacita Dean als kleines Kind sagen konnte. Mit dem Titel des ihrer Schwester gewidmeten Werkes verortet sie es einerseits in ihrer eigenen Lebensgeschichte und Befindlichkeit, andererseits aber auch in einem der komplexesten Mythen-Kreise überhaupt, der mit seiner Widersprüchlichkeit die Tiefen menschlicher Existenz auslotet.
Die Blindstelle
Die Themen Blendung und Blindheit dominieren in „Antigone“ mehrfach. Tacita Dean greift in den thebanischen Mythen um Ödipus und Antigone, die in den antiken Tragödien überliefert sind, ausgerechnet nach einer Blindstelle. Zwischen Sophokles’ Tragödien „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“ begleitet Antigone Ödipus, der ihr Vater und zugleich ihr Halbbruder ist, nach Kolonos. Ödipus ist blind, denn er stach sich die Augen aus, als er die Wahrheit über seinen Mord am Vater Laios und über seinen Inzest mit der Mutter Iokaste erfuhr. Während Sophokles die Jahre andauernde Wanderung ausspart, macht Tacita Dean gerade dieses Wandern zu einem Leitmotiv: Immer wieder sehen wir den alten bärtigen Blinden durch die öde Landschaft stapfen. Lautstark klopft er mit dem Blindenstock die steinigen Wege ab.
Antigone – wir?
Ödipus, gespielt von Stephen Dillion, wandert einsam, denn Tacita Dean verzichtet auf die Figur der Antigone: „Ich verweigerte Stephen seine Antigone und zwang ihn, allein zu gehen.“ Warum? Es scheint, als liesse sie uns Ödipus durch Wildnis und Wüste folgen wie Antigone, von der – eine zusätzliche Ebene – auch die Rede ist im Dialog, den Dillion mit der Schriftstellerin Anne Carlsen führt. Carlsen hat sich ihrerseits mit Antigone beschäftigt. Die Gespräche finden in einem Gerichtsgebäude am träge dahinfliessenden Mississippi statt – im kleinen Dorf im Staate Illinois, das ausgerechnet Theben heisst und wo eine langgezogene Brücke über den Fluss führt: Auch das ein wiederkehrendes Leitmotiv des Films.
Der Motive, Verschränkungen, Überlagerungen und Beziehungsnetze sind viele in diesem Werk. Es lebt von einem sanften Rhythmus, der uns Zeit lässt, ins Geschehen einzutauchen, von weiten und archaischen Landschaftsansichten, von Bildern von aus dem steinigen Grund aufsteigenden Dämpfen. Sie erinnern an Pythia, die auf ihrem Dreifuss über den Rauchschwaden ihre Orakel verkündete. Auch da verknüpfen sich die antiken Mythen mit Persönlichem, denn Tacita Dean erlebt während eines Studienaufenthaltes in Griechenland im Winter die einsame Orakelstätte Delphi.
Blind dem Zufall vertrauen
Oft lässt Tacita Dean ihre Assoziationen frei dahinfliessen. Der Zufall spielt dabei keine geringe Rolle, denn die Künstlerin wusste, wie sie selber ausführt, nicht immer, wohin die Wege ihres Experiments sie führten.
Oft ging sie diese Wege blind, darin Ödipus ähnlich, wohl aber auf die Kraft des Zufalls vertrauend. Das findet seine Entsprechungen in der Arbeitsweise: Tacita Dean setzte im durchweg mit analogen Techniken hergestellten Film alte, an Alchemistisches gemahnende und nicht bis ins Letzte kalkulierbare Gestaltungsmittel ein – darunter Aufteilungen der Bildflächen mittels Schablonen oder Mehrfachbelichtungen. Das Unberechenbare des Zufalls mochte die künstlerische Arbeit mitunter zu einer Art mutigen experimentellen Blindflugs werden lassen, dem aber die klaren Strukturen und die Parallelismen der Projektionen Grenzen setzten. Die technischen Belange der analogen Filmherstellung erhalten so eine inhaltliche Dimension.
Erodierende Kreidefelsen
Eine enge Verbindung zwischen praktischer Handhabe der Gestaltungsmittel und Inhalt charakterisiert auch die ebenfalls 2018 entstandenen grossformatige Arbeit „Chalk Fall“, die neben „Antigone“ zu sehen ist und die akut erodierende Kreidefelsen zeigt, gezeichnet mit Kreide auf neun grosse schwarze Wandtafeln.
Das höchst fragile Werk droht selber, wie die dargestellten Felsen, zu erodieren. Aber nicht nur „Chalk Fall“ begleitet Tacita Deans „Antigone“. Die Künstlerin zeigt auch weitere Werke, die zum Teil direkt auf die Filminstallation Bezug nehmen, zum Teil aber ganz andere Wege beschreiten. Beispiele dafür sind schlicht gestaltete 16mm-Filme mit Vögeln, die auf diagonal ins Bild gespannten Telefondrähten sitzen, oder eine Serie handgezeichneter Lithografien mit dem Titel „L. A. magic hour“.
Die Folge von 15 Blättern fängt auf subtile Weise farbliche Veränderungen der Wolken am Himmel über Los Angeles während der Abenddämmerung ein.
Die in Canterbury geborene Tacita Dean (Foto: Jim Rakete) lebt und arbeitet in Berlin. Sie beschäftigt sich mit den Medien Film, Fotografie, Malerei, Zeichnung und Klanginstallation. Sie ist mit ihren Werken weltweit in Museen und Ausstellungsinstituten präsent, so auch mehrfach im Kunstmuseum Basel Gegenwart. Aufsehenerregend war ihre riesengrosse Film-Installation in der Turbinenhalle der Tate Modern in London (2011). Die Künstlerin ist Mitglied der Royal Academy of Arts, London, und der Berliner Akademie der Künste. „Antigone“ wurde erstmals 2018 in London in der Royal Academy und im gleichen Jahr im Kunsthaus Bregenz gezeigt. Um die Finanzierung der Grossproduktion machte sich die Basler Emmanuel Hoffmann Stiftung verdient, in deren Sammlung sich „Antigone“ heute befindet.
Kunstmuseum Basel Gegenwart. Bis 9. Januar.
Künstlerbuch zur Ausstellung mit Texten von Tacita Dean, Anne Carson, Maja Oeri und anderen. 28 Franken.