Putin versteht nur eine Sprache: die Sprache der Härte, der Unnachgiebigkeit, der Unbeugsamkeit. Über pazifistisches Gesäusel lacht er nur. Beikommen kann man ihm nur mit Panzern, mit Munition, Kampfflugzeugen, Raketen und Drohnen.
September 1938: In München unterzeichnen Adolf Hitler und die Regierungschefs Neville Chamberlain (Grossbritannien), Édouard Daladier (Frankreich) und Benito Mussolini (Italien) ein Abkommen. Nicht eingeladen waren die Tschechoslowakei und Russland. In dem Abkommen wurde festgelegt, dass die Tschechoslowakei das von Hitler geforderte Sudetenland an Deutschland abtreten und innerhalb von zehn Tagen räumen muss.
Damit gingen Grossbritannien und Frankreich vor Hitler in die Knie. Chamberlain glaubte, mit der Opferung des Sudetenlandes den Frieden gesichert und einen Krieg vermieden zu haben. Er sagte: «Ich glaube, es ist der Friede für unsere Zeit (‘peace for our time’). Nun gehen Sie nach Hause und schlafen Sie ruhig und gut.»
Niemand schlief nachher ruhig und gut. Nicht nur in Grossbritannien wurde der Kotau vor Hitler scharf kritisiert. Churchill sagte: «Appeasement kann nur aus einer Position der Stärke erfolgen.»
Chamberlain glaubte, wenn man Hitler das kleine Sudetenland als Knochen vor die Füsse wirft, hält er sich ruhig und gibt sich zufrieden. Nichts dergleichen geschah. Fünfeinhalb Monate nach dem Münchner Abkommen marschierten deutsche Truppen in Prag ein. Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Der Zweite Weltkrieg begann.
Die Parallelen zur Ukraine sind offensichtlich. Immer lauter werden die Stimmen, die sagen: Gebt doch Putin ein Stück der Ukraine – dann haben wir Ruhe, dann geht der Krieg zu Ende. Die Washington Post berichtet von einem «Geheimplan». Danach soll auch Trump nach seiner eventuellen Wiederwahl auf den Donbass und die Krim verzichten, um Putin ruhig zu stellen.
Wird sich Putin mit dem Donbass, der Krim und der Südukraine begnügen? Wenn man sich da nur nicht täuscht.
Fast alles deutet darauf hin, dass der Kreml-Herrscher einen solchen Kniefall als Schwäche, als Kapitulation des Westens interpretieren würde. Dann könnte er – wie Hitler damals – erst recht zuschlagen. Putin hat nie gesagt, er wolle nur die Ost- und Südukraine; immer hat er den Anspruch auf das ganze Land erhoben.
Mehr noch: Manchmal verklausuliert, manchmal offen, lässt er durchblicken, dass er nach der Eroberung der Ukraine nicht haltmachen werde. In den drei baltischen Staaten, in Polen, in Moldawien, in Georgien verfolgt man die Entwicklung mit Sorge. Der Zerfall der Sowjetunion war für Putin ein Trauma. Er spricht von «Heimholung russischer Erde». Er hat eine Mission; er will Russland zur alten Grösse zurückführen. Er zitiert «Peter den Grossen» (1672–1725), denkt an «Katharina die Grosse» (1729–1796). Er will als «Wladimir der Grosse» in die Geschichte eingehen. An Ostern lässt er sich in der Moskauer Erlöserkathedrale vor einem Heiligenbild mit Jesus und Mutter Maria fotografieren (siehe oben).
Und wenn Putin doch zu einem Waffenstillstand oder einer Art Friedensregelung bereit wäre? Dann wohl nur deshalb, um seine Armee neu aufzustellen, um neuen Anlauf für neue Offensiven zu holen.
Putin hat sich in den zwei Kriegsjahren verändert. Mehr und mehr kapselt er sich ab und steigert sich in einen Wahn hinein. Analysiert man seine jüngsten Aussagen, kommt man nicht umhin, paranoide Züge zu erkennen. Die letzten Erfolge in der Ukraine scheinen ihn entfesselt zu haben. Jetzt will er aufs Ganze gehen. Er verdreht die Geschichte, er verdreht Fakten, er lügt das Blaue vom Himmel herunter, verliert sich in Verschwörungsszenarien. Mehr und mehr ist ihm alles zuzutrauen. Ohne Rücksicht auf Verluste wird er immer fanatischer. Das macht ihn so gefährlich. Besessene Leute sind brandgefährlich.
Vielleicht sollte man die Worte des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk ernst nehmen, wenn er sagt: «Jedes Szenario ist möglich, buchstäblich jedes.» Damit spielt er auf die Möglichkeit eines Atomschlages an. Natürlich soll man nicht den Teufel an die Wand malen. Doch Leuten, die täglich Kriegsverbrechen begehen, die völkerrechtlich anerkannte Grenzen verletzten, die auf niemanden hören, die alle aus dem Weg räumen, die ihnen nicht passen, die Theater, Schulen, Spitäler und Bahnhöfe bombardieren – solchen Leuten sind alle Mittel recht. Lieber verbrannte Erde, lieber die Apokalypse als nachgeben.
Sicher ist: Mit solchen Menschen kann man nicht mehr ernsthaft reden. Putin will auch nicht verhandeln. Für den Friedensgipfel auf dem Bürgenstock hat er nur Spott übrig. Er versteht nur eins: Widerstand, Entschlossenheit, Härte. Wenn einmal Waffen eine noch grössere Katastrophe verhindern können, dann jetzt.