Wunder, so lautet eine boshafte Definition, sind Phänomene, die dann auftreten, wenn Skeptiker abwesend sind. Das verleitet natürlich dazu, die ganze Problematik ins Sozialpsychologische zu verschieben, Wunder von der Leichtgläubigkeit und Ungebildetheit der Menschen abhängig zu machen. Und in diesem Sinne schreibt sich denn auch die Geschichte des Wunderglaubens normalerweise als Geschichte seiner «Überwindung» durch wissenschaftliche Entzauberung.
Typisch ist schon David Humes Feststellung, dass vor allem bei ungebildeten und barbarischen Völkern Wundergeschichten erzählt würden. Je aufgeklärter die Menschheit, desto weniger Wunder, so lautet die einfache reziproke Gleichung. Aber sie ist tatsächlich zu einfach.
Naturwissenschaft wundert sich
Dabei kann man Wissenschaft ganz unverfänglich als Beschäftigung mit Wundern, im Sinne ungeklärter Phänomene, definieren – der Laie staunt, der Fachmann wundert sich. Nicht alle wundern sich allerdings, und nicht alle wundern sich über das Gleiche. In der Tat hängt es stark davon ab, was man als «normalen» Gang der Dinge betrachtet. Niemand wundert sich, wenn der Ball, losgelassen, zu Boden fällt. Kein Wunder, sagen wir, der Ball «gehorcht» dem Gesetz der Schwerkraft. Das weiss heute jedes aufgeweckte Kind, und dieses Wissen drückt unser modernes Naturverständnis aus. Weniger bekannt allerdings ist, dass sich die Natur oft nicht so verhält, wie das Gesetz «vorschreibt». Wie John Archibald Wheeler – ein führender Kosmologe (er prägte den Begriff des Schwarzen Lochs) – einmal sagte: «Es gibt kein Gesetz, ausser dem, dass es keines gibt.»
Vom Wunder zum Natureffekt
Aus «Kein Wunder, ein Gesetz» folgt natürlich nicht «Kein Gesetz, ein Wunder». Der Physiker würde sich schon wundern, wenn der Ball zufällig einmal nicht zu Boden fiele, sondern nach oben wegflöge. Diese momentane Leichtigkeit des Seins wäre für ihn indes kein übernatürliches Zeichen, oder Omen eines hereinbrechenden Chaos, sondern schlicht Ansporn für eine Erklärung. Wahrscheinlich handelt es sich um einen präparierten Trickball. Möglicherweise besteht der Ball aus einem unbekannten Material. Möglicherweise sorgte ein unbemerkter Aufwind für diese Abweichung vom Gesetz. Vielleicht, was schon etwas spektakulärer wäre, handelt es sich um eine Anomalie des Gravitationsfeldes. So werden im Übrigen wegweisende Entdeckungen gemacht. Auf jeden Fall ist es der (gute) Physiker sich schuldig, nicht zu ruhen, bis er das vermeintliche Wunder als Natureffekt entlarvt hat.
Bastelanleitung für eine Blut weinende Madonna
In diesem Sinn sind heute weniger die Theologen als vielmehr die forensischen Experten zuständig für Wunder. Ein beflissener Reliquienentzauberer ist zum Beispiel der Chemieprofessor Luigi Garlaschelli aus Pavia, der blutenden Jesusstatuen, weinenden Madonnen mit Labormethoden zu Leibe rückt. Er hat sogar eine Bastelanleitung für eine weinende Madonna gegeben. Man braucht eine hohle Statue aus porösem Material wie Gips oder Keramik, die mit einer undurchlässigen Glasur bestrichen wird. Das poröse Material saugt die Flüssigkeit auf, die man durch ein kleines Loch in die Figur injiziert. Die Glasur verhindert das Austreten der Flüssigkeit. Kratzt man die Glasur jedoch um die Augen herum unmerklich weg, können dort «Tränen» austreten. Ein überzeugender Trick. Ob diese Strategie ein mit Wunderklienteln reich dotiertes Land wie Italien entzaubert, ist allerdings fraglich. Als 1995 in Civittavecchia wieder einmal eine Madonna in blutige Tränen ausbrach, bekannte sogar der örtliche Bischof, die Terrakotta-Statue habe in seinen Händen geweint. Der Befund aus dem Labor lautete: Echtes Blut, aber männlich ...
Eine andere «Lesart» der Welt
Das Wunder ist Ausdruck einer anderen «Lesart» der Welt. Wir sehen beim Lesen Buchstaben, Wörter als materielle Bestandteile einer Buchseite, und gleichzeitig «sehen» wir etwas völlig anderes, nämlich die immaterielle Bedeutung des Textes. Ein solches textuelles Verständnis der Natur prägte die ganze christliche Vorneuzeit. «Am Anfang war das Wort» muss so gelesen werden. Man sieht die materielle Seite der Dinge und zugleich weisen sie auf eine immaterielle übernatürliche Ordnung hin. Was der natürliche Lauf der Dinge für den einen, ist Gottes Wirken für den andern. Für jemanden, der sagt, er glaube an eine von Gott geschaffene Welt, ist es evident, in der Natur Zeichen und Spuren von Gottes Schaffen zu sehen oder zu suchen. So wie es ebenso evident für den Zweifler ist, Naturphänomen nicht als Zeichen zu deuten, sondern als «evidence» für eine vermutete Gesetzmässigkeit. Es sind also nicht Glaube und Vernunft, die sich gegenüberstehen. Die Spannung baut sich zwischen den Polen zweier Optionen auf: Zeichen oder empirischer Beweis (evidence) für eine Weltordnung.
Wunder als Beweis für den Glauben
In der Sicht des neuzeitlichen Naturverständnisses ist die Welt kein Text, sondern ein kausal zusammenhängendes Netz von Ereignissen. Dies bedeutete eine gewaltige Verschiebung in der geistigen und geistlichen Tektonik. Im Europa des 17. Jahrhunderts entbrannte unter den Gelehrten (katholischer und protestantischer Konfession) eine leidenschaftliche Grossdebatte um die Beweiskraft des Wunders. Die Katholiken sagten: Ihr Protestanten, so bringt doch Wunder zur Bestätigung eures Glaubens bei. Was die Protestanten mit dem Argument parierten: Das Wunder bestätigt den Glauben nicht, es setzt ihn voraus.
In der Folge verschob sich die Frage nach der Beweiskraft der Wunder immer mehr zur Frage, ob es denn überhaupt Beweise für sie gebe. Gerade am angeblich Wunderbaren – am Bizarren, Monströsen, Anomalen, Singulären der Natur – wetzten die neuen Naturphilosophen ihre Klingen der Erklärung, um zu zeigen, dass es hier mit natürlichen Dingen zu- und hergeht.
Damit war das Ende des Wunders als Beweismittel besiegelt. Fortan wurde es den Geruch der geistigen Rückständigkeit oder der Betrügerei nicht mehr los. Aber der Konflikt zwischen religiöser und wissenschaftlicher Interpretation des Wunders schwelt weiter. Denn die Evidenz des Glaubens lässt sich nicht gegen die «evidence» der Wissenschaft ausspielen. Man sollte nur beide nicht verwechseln.
Kann Wissen den Glauben austreiben?
Kann uns Wissen den Glauben austreiben? In einer Hinsicht schon. Der Prozess der Entzauberung ist irreduzibel. Man mag das bedauern oder begrüssen. Jedenfalls haben wir im Verlauf der menschlicher Erkenntnisentwicklung gewisse Dinge gelernt, die man nicht mehr ent-lernen kann, ohne seine Zivilisiertheit aufs Spiel zu setzen. Wer behauptet, die Welt sei vor zirka siebentausend Jahren in sechs Tagen entstanden, wer behauptet, es gäbe «überwältigende» Beweise für göttliches Design in der Natur, wer in AIDS eine göttliche Strafe für Homosexualität sieht, wer eine lebensrettende Bluttransfusion ablehnt, weil es die Bibel verbietet – wer also im Namen seines Glaubens einen bestimmten Wissensstand unterläuft, bekundet nur eines: die eigene intellektuelle Retardiertheit.
«Science finds God»
Auf der andern Seite führen sich heute Naturwissenschafter – oder eher: szientistische Ideologen – oft so auf, als gelte es nun auch Geist, Psyche, eigenen Willen, den Drang nach der Transzendenz und anderes als Wunderglauben zu «entzaubern». Gehirnforscher sehen in Gott eine Nervensache, Mikrobiologen sprechen vom «Gottes-Gen», Evolutionisten diskutieren Religiosität unter dem Aspekt des Anpassungsvorteils.
Dabei fällt heute die Vorliebe von Wissenschaftern für religiöse Überhöhungen ihrer Arbeit auf. Sie passt ins Zeitalter einer hemmungslosen Sinnvermarktung. In den Buchhandlungen und Bibliotheken reihen sich regalmeterweise Bücher, die von Naturwissenschaft und Religion, Biologie und Schöpfung, Gott und der modernen Physik, der Physik der Unsterblichkeit, von der Gottesformel, von Gottespartikeln usw. handeln. «Science finds God» titelte 1998 das Magazin Newsweek und brachte damit einen Pendelschlag im stets gefährdeten Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion auf den Punkt, der mir bedenklich erscheint: Die Naturwissenschaften haben ein Loch in unser Welt- und Selbstverständnis gerissen, das sie nun selbst zu stopfen vorgeben – letztlich aber scheitern.
Das grösste Wunder: der Mensch
Hüten wir uns daher vor fauler Versöhnlichkeit zwischen Glauben und Wissen, im Sinne Voltaires: «Gott und ich begrüssen uns, aber wir reden nicht miteinander.» Das grösste Wunder ist und bleibt der Mensch, dieses vom Paradox getriebene Tier. Nicolaus Cusanus, eine der herausragenden Vernunftgestalten des Mittelalters, hat dem Paradox einen Namen gegeben: Gelehrtes Unwissen – docta ignorantia. Ein wunderschöner Begriff. Die menschliche Gelehrigkeit ist erstaunlich, aber sie erleuchtet bestenfalls ein paar Nischen in der weiten, freundlichen Nacht des Unergründlichen.
Und überhaupt: Wissen kommt von «Schmecken» – ein paar Körnchen Salz aus der Wunderdose machen es bekömmlicher.