Symptomatisch sind die immer häufiger geäusserten Bedenken und Klagen über das Wissenschaftssystem, das eine „Kultur“ der Korruption begünstige.
Peer Review unter scharfer Beobachtung
Eines der wichtigsten Instrumente wissenschaftlicher Qualitätskontrolle – die Peer Review – sieht sich wachsenden Zweifeln ausgesetzt. Es gibt bereits eine „Retraction Watch“, also ein Online-Überwachungsorgan unsorgfältiger und fehlerhafter Forschungsarbeiten. Der Signifikanztest, ein zentraler Massstab in der Beurteilung statistisch erhobener Resultate, gerät unter den Beschuss der Kritik. Zeitungsartikel schlagen den Warnton an: „Bitte nur die ganze Wahrheit“, „Wissenschaft und Wahrhaftigkeit. Eine schöne Illusion“, „Unser Wissenschaftssystem belohnt dreiste Lügner“; „The Trouble with Scientists“. Und dies alles gleichzeitig zu heroischen Meldungen über spektakuläre Fortschritte an der vordersten wissenschaftlichen Erkenntnisfront. Es scheint auf den ersten Blick, als sei Wissenschaft für die Medien nur noch Thema als Skandal oder als pop-artig gefeierter Durchbruch.
Das Studium der Natur als das Studium von Gottes Buch
Nun liesse sich dieses Held-Schurke-Bild des Wissenschafters dadurch erklären, dass es einem medialen Wahrnehmungsfilter optimal angepasst sei, der sich auf Holzschnittartiges kapriziert. Wir stossen hier freilich auf ein tieferes Problem, sozusagen auf die Lebensader einer über dreihundert jährigen Forschungstradition. Lange Zeit war für den neuzeitlichen Naturwissenschafter das Studium der Natur so etwas wie das Studium von Gottes Buch; analog zum Studium der heiligen Schriften für den Gläubigen. Wir erinnern uns an Galileis Diktum, das Buch der Natur sei in mathematischen Lettern geschrieben.
Das ist eine zweideutige Formulierung, die ihn womöglich vor der schärfsten Strafe der Inquisition rettete. Die Mathematik sagt voraus, wie sich die Himmelskörper bewegen; warum sie sich so bewegen, überliess Galilei der Kirche. Die Naturforscher erhofften sich durch die sorgfältige und gelehrige Auslegung der Naturbibel eine moralische Verbesserung. Die Puritaner im Besonderen förderten das Studium der Natur aus religiösem Pflichtgefühl. Es ist gut, weil das, was es erforscht, gut, will heissen: Gottes Werk, ist. Ein solches übernatürliches Mandat beinhaltet indes bereits den Keim der Selbstüberhebung und des Masslosen. Wohlwollenden Auges sieht Gott zu, wie sein irdischer Adept immer mehr wissen will und wie er nicht genug kriegen kann. Der experimentelle Eingriff in die Natur hat das Plazet Gottes. Logik und Moral der Forschung sind eins. Etwas im Namen der Wissenschaft zu behaupten, heisst, etwas im Namen der Natur, also Gottes, zu behaupten.
Wissenschaft ist keine moralische Autorität
Das wäre heute vermessen - obwohl immer wieder abgedrehte Forschertypen diesen Anspruch erheben. Einer der grossen moralischen „Entzauberer“ der Wissenschaft, Max Weber, warnte seine Studenten eindringlich davor, von ihm als wissenschaftlicher Autorität moralische Direktiven zu erwarten. Wissenschaft ist kein Priesteramt, sondrn ein Beruf: „Was ist der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: ‚Weg zu wahren Sein’, ‚Weg zur wahren Natur’, ‚Weg zum wahren Gott’, versunken sind? Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ‚Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: Was sollen wir tun? (..) keine Antwort gibt.’ Die Tatsache, dass sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar.“
Genau dies bestreiten heute Verfechter eines Hardcore-Szientismus. Sie möchten uns Tugendhaftigkeit gerade mit den Mitteln der Wissenschaft lehren. Mit dem Kampfruf eines „neuen Atheismus“ erheben sie sich selber quasi zu Missionaren eines „Glaubens“, der die alten – zumal die religiösen - Wertesysteme „überwindet“. Vordergründig scheinen sie sogar das alte Forschungsmotiv zu bestätigen, wenn sie betonen, dass das Studium der Natur uns auch über unsere Moral belehre. Aber nun nicht, weil sie in der Natur Gottes Werk sehen, sondern weil die moderne Naturwissenschaft die einzige Autorität ist, die Anspruch auf das Lehramt hat.
Das moralische Hirn
Einer der vorlautesten in dieser Gemeinde der ungläubigen Wissenschaftsgläubigen ist der amerikanische Neurowissenschafter Sam Harris. Moralische Probleme sind in seinen Augen wissenschaftliche Probleme im Zustand der Unreife. Sie sollten nicht so sehr gelöst, als aufgelöst werden. Von moralischen Problemen zu sprechen ist eine überständige Redensart aus alten dualistischen Zeiten, als man noch zwischen Seele und Körper – oder Person und ihrem neuronalen Substrat - trennte.
Nun reklamiert die Wissenschaft dezidiert ihre moralische Autorität, indem sie zeigt, dass die alten moralischen Autoritäten eigentlich „nackt“ sind, ihre Begründungen nichts als der Tand von Vortäuschungen und Illusionen. Wissenschaft allein demonstriert, was gut und wie ein gutes Leben zu führen sei. Wissenschaft wird uns vom Unbill gesellschaftlicher Probleme heilen, die nur darin bestehen, dass man sie nicht genügend tief, will heissen, bis hinunter zum Geschehen in Dendriten und Synapsen erforscht hat: Moral „sollte als unterentwickeltes Feld der Neurowissenschaft betrachtet werden“, und „Wissenschaft kann menschliche Werte determinieren.“
Gutes und Böses liegen nicht in der Natur
Das Argument entpuppt sich – oberflächlich betrachtet - als simpler Syllogismus: Moral zielt ab auf die Verbesserung unseres Wohlergehens. Es gibt objektive – zum Beispiel biomedizinische - Tatsachen über unser Wohlergehen, die der Wissenschaft zugänglich sind. Deshalb kann Wissenschaft „im Prinzip“ sagen, was „objektiv“ moralisch ist; das heisst, sie kann uns sagen, ob etwas unser Wohlergehen erhöht oder vermindert. Nun ist die erste Prämisse nicht wissenschaftlich, sondern philosophisch oder – allgemeiner – kulturell bestimmt. Sie statuiert keine objektive Tatsache, sie äussert ein Werturteil. Man kann ihm zustimmen oder auch nicht, unabhängig jeglichen wissenschaftlichen Befundes.
Überhaupt: Was heisst Wohlergehen? Ein Durchschnittseuropäer und ein syrischer Flüchtling werden wohl in wenigen Punkten „objektiv“ einig sein, was unter Wohlergehen und dessen Verbesserung zu verstehen ist. Es lässt sich zudem nicht übersehen, dass Hirn- und Kognitionsforscher einer utilitaristischen Werthaltung zuneigen. Die Wissenschaft kann Gründe liefern, die einer solchen Haltung zuträglich oder abträglich sind. Aber sie selber liefert keine Werte, sie sagt uns nicht: Der Utilitarismus ist gut, weil uns die Natur sagt, er sei gut. Darwins Mitstreiter Thomas Henry Huxley formulierte dies bereits 1893 so: Der Mörder gehorcht der Natur ebenso wie der Menschenfreund. Die Evolution mag uns darüber belehren, wie die Tendenzen des Menschen zum Guten und Bösen entstanden sind; aber sie ist für sich genommen unfähig, uns für das Gute und Böse bessere Gründe zu liefern als jene, die wir schon haben. Wissenschaft ist in ein Moralsystem eingebettet, und nicht umgekehrt.
Der naturalistische Fehlschluss
Wir haben es mit einem erkenntnistheoretischen – dem naturalistischen – Fehlschluss zu tun. Und erstaunlich ist eigentlich, mit welcher Chuzpe ihn Szientisten vortragen, als wäre das entscheidende Gegenargument nicht schon vor über zweihundert Jahren ins Treffen geführt worden, nämlich von David Hume: Wissenschaft stellt fest, was ist; aus ihr folgt nicht, was gut oder schlecht ist. Allerdings können Sachurteil und Werturteil durchaus interferieren. Vor einiger Zeit war zum Beispiel über einen türkischen Vater in Deutschland zu lesen, der seinen Sohn schlug, weil dieser alles mit der linken – also der unreinen - Hand anfasste. Der Vater erfuhr, dass Linkshändigkeit mit Neurophysiologie und nicht mit den religiösen Motiven seines Sohnes zu tun hat. Die Wissenschaft sagte ihm nicht, dass seine Überzeugung über das Linkshändertum schlecht sei. Vielmehr oblag es dem Vater selbst - möglicherweise nach einen tiefen inneren Konflikt - , seine Haltung gegenüber dem Sohn gemäss wissenschaftlicher Interpretation der Linkshändigkeit zu korrigieren.
Betrug und Überheblichkeit
Die Natur ist keine moralische Instanz. Sie gebietet nicht: Du sollst! Wer in ihrem Namen derartige Ansprüche anmeldet, ist ein Trickster: ein Bauchredner, der im Grunde seine Stimme – z.B. die utilitaristische - heimlich mitreden lässt. Daraus folgt kein Nichtinterventions-Appell angesichts der heute brennenden Problemzonen. Wissenschaft soll intervenieren, aber im selbstkritischen Bewusstsein ihrer eigenen „Voreingenommenheiten“. Es war im Übrigen auch Max Weber, der sich gegen den Szientismus seiner Zeit wandte; gegen Versuche, durch die Methoden der Naturwissenschaften Weltanschauungen und ethisch-politische Normen begründen zu wollen. So kritisierte er scharf die „energetische Kulturtheorie“ des Chemikers Wilhelm Ostwald. Ihre „technologischen Ideale“ würden nur „Wechselbälge (zeugen), wenn rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die Soziologie vergewaltigen.“
Es geht um eine neue Kalibrierung der Wissenschaft. Die Entscheidung, die Welt so weit wie möglich wissenschaftlich zu verstehen, bedeutet nicht, sie exklusiv wissenschaftlich zu verstehen. Sie entspringt einem umsichtigen Rationalismus, der seine Erkenntnismittel immer wieder überprüft. Max Weber Weber nannte dies „intellektuelle Rechtschaffenheit.“ Ihrer bedarf es umso dringlicher, als Wissenschafter einerseits Forschungstugenden zu „verlernen“ scheinen, andererseits sich zu absolutistischen Tugendlehrern aufschwingen. Man kann die Situation immer mit dem Hinweis entschärfen, es handle sich um Auswüchse. Wir tun gut daran, sie als Symptome einer Vertrauenskrise wahrzunehmen, in der die Wissenschaft steckt. Sie handelt nicht mehr im göttlichen Auftrag, sondern im menschlichen - im allzumenschlichen, muss man anfügen. Vielleicht nimmt die universitäre Ausbildung diesen Auftrag wieder einmal ins Visier. Denn Wissenschaft kann ihren Ruf auf zwei Arten verspielen und sie tut es heute auch: durch Betrug und durch Überheblichkeit in ihrem Namen.