Mich hätte interessiert zu erfahren, woher die Flüsse die Kraft nehmen, Täler und Schluchten in die Berge zu schneiden; aber das sagte man uns nicht. Nur die Namen der linken Nebenflüsse des Rheins, oder der Rhone, oder die rechten mussten wir wissen… Wozu? Als Gedächtnistraining sagte der Lehrer unter anderem; doch dazu lernte ich lieber Wilhelm Buschs Verse auswendig.
Heute scheint der Schulunterricht vernünftiger gestaltet
Ähnlich erging es mir im Geschichtsunterricht. Was kümmerte es mich, ob in Paris die Bastille am 14. Juli 1789 oder an irgendeinem andern Datum gestürmt worden war. Ich hätte wissen wollen, warum die Bastille und nicht der Königspalast gestürmt wurde; aber lernen mussten wir für alles und jedes nur die Namen und Daten. Das war vor 75 Jahren. Den Schulbüchern meiner Enkel entnahm ich, dass heute der Unterricht vernünftiger gestaltet wird.
Einen Vortrag vor Studenten über Journalismus begann ich mit der Frage, was die wichtigste Vorbedingung zum guten Journalisten sei. Hände schnellten in die Höhe, und deren Köpfe sagten: „Schreiben können“. Das ist, als ob man sagen würde, zum Geigenvirtuosentum sei die Vorbedingung, dass man die Tonleitern und Arpeggios fehlerlos spielen könne.
Schreiben können reicht nicht zum Journalistenberuf
Schreiben können ist keine Vorbedingung zum Journalistenberuf, das Schreiben ist des Journalisten erstes Werkzeug; er lernt es handhaben, so wie der Geiger die Geige. Was er jedoch mitbringen muss, gleichsam als eine ihm innewohnende Anlage, ist die Neugier, die unersättliche Neugier, die immer und überall fragt und hinterfragt, zudem die Skepsis, die nichts ungeprüft als erwiesen und glaubwürdig hinnimmt.
Die berühmten fünf W's, die die Redaktoren jedem Neuling einhämmern, (wer, was, wann, wo, warum), ist gut für eine Mitteilung. Aber weshalb (zum Beispiel) ein Politiker dem Journalisten bei einem Interview diese Lüge auftischt und nicht eine andere (und lügen oder vertuschen oder verdrehen wird er in den meisten Fällen), das kann aufschlussreich sein.
Glaube scheint verbreiteter zu sein als Neugier
Auch für den Wissenschafter sind Neugier und Skepsis die wichtigste Vorbedingung. Eigentlich ist das Wort Wissenschaft falsch, denn im Grunde hat Wissenschaft mit Wissen nichts zu tun, sondern mit Nicht-Wissen und dem daraus folgenden Fragen, Suchen, Forschen.
Verbreiteter als die Neugier scheint mir allerdings unter den Menschen der Glaube zu sein. Ich meine damit nicht den Glauben an die Bösartigkeit der Zahl 13, auch nicht den Glauben im Sinne einer Arbeitshypothese, die überprüft werden kann, sondern den Glauben an Überirdisches, an Himmelreich, Paradies und Hölle, an ein Leben nach dem Tod und letzten Endes an Gott oder Götter, wobei mir der Glaube im Sinne des katholischen „Credos“ weniger als Glaubensbekenntnis, denn als ein Gehorsamkeits-Gelöbnis an die Kirche erscheint („ich glaube, so wie die Kirche es mir befiehlt“).
Kann der Mensch ohne Gott gut sein?
Wodurch unterscheidet sich eigentlich eine über dem Kirchenaltar hängende Holzschnitzerei, die einen Gekreuzigten darstellt, von einem Idol heidnischer Kulten? Man sage nicht: der Glaube. Denn der Urwaldbewohner, der seinem Idol Früchte, Reiskörner und Kokosmilch als Opfergabe darbringt, handelt ebenso im Glauben an ein Göttliches wie der Schweizer, der in der Kirche die Holzschnitzerei über dem Altar anbetet. Der Unterschied lässt sich nicht erklären, man kann nur glauben, dass einer bestehe.
Eine Frage drängt sich allerdings auf: Hätten die alten Juden die zehn Gebote akzeptiert, wenn Moses ihnen nicht gesagt hätte, er habe sie von Gott erhalten? Würden heute die Juden und Christen sie andernfalls akzeptieren? Kann der Mensch ohne Gott gut sein? Dass er mit Gott schlecht sein kann, ist erwiesen; aber ohne Gott gut?
Hannah Arendts Leitsatz
Die Buddhisten können es. Aber alle Menschen? Offenbar brauchen viele Menschen fraglos die Vorstellung eines Gottes, um eine im Glauben wurzelnde und durch den Glauben legitimierte oberste Ordnungsgewalt zu haben. Kaiser und Könige bezeichneten sich einst als von Gottes Gnaden eingesetzt – nicht nur, um sich vor potentiellen Usurpatoren zu schützen, sondern auch um zu suggerieren, dass sie im Namen Gottes herrschten und dass demzufolge der Gehorsam ihrer Untertanen ein göttliches Gebot sei.
Gibt es keine andere Möglichkeit, Ordnung, Recht, ethisches Betragen unter die Menschen zu bringen als mithilfe eines Gottes? Hannah Arendt hat gesagt, dass das, was man tun soll, nicht von einem Befehl göttlichen oder menschlichen Ursprungs abhängen müsse, sondern von der Frage an sich selbst, ob man nach einer Entscheidung oder Tat noch imstande sei, mit sich selber zusammenzuleben. Können Sie sich einen menschenwürdigeren Leitsatz denken?