Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Strassenrennen aufkamen, beschäftigte die «physiologische Pathologie» der athletischen Leistung die Ärzte. In seinem Buch «Education physique et la race» (1919) schrieb etwa der französische Pionier der Sportmedizin Philippe Tissié, dass «sportbedingte Erschöpfung beim gesunden Menschen so etwas wie eine experimentell verursachte Krankheit hervorruft (...) Der Athlet ist ein Kranker.»
Die Krankheit Hochleistungssport
Der moderne Hochleistungssport weicht die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit, Normalem und Pathologischem zunehmend auf. Er lebt nachgerade von dieser Zwischenzone. Deshalb erweist sich der Arzt neben dem Trainer als unentbehrlich; und deshalb wird eine saubere juristische Grenzziehung zwischen erlaubtem und unerlaubtem Doping immer bis zu einem gewissen Grad ein strittiger Willkürakt sein.
Eine andere Grenze löst sich auf. Athlet und Gerät gleichen sich zunehmend an. Der Sportlerkörper ist das Bild, das sich moderne Wissenschaft und Technologie von ihm machen: eine Experimentieranstalt auf zwei Beinen, eine organische Maschine. Der Athlet ist nur zu bereit, die neuesten Errungenschaften der medizinischen und biochemischen Forschung zwecks Leistungssteigerung an sich zu testen. Dadurch liefert er sich – ob er will oder nicht – dem Maschinenbild aus und verhilft ihm gleichzeitig zu gesellschaftlich-kultureller Anerkennung. Er macht sich zum Verbündeten eines hochfahrenden Fortschrittsprojekts, welches die Maschine nicht nur als dem Menschen ebenbürtig betrachtet, sondern als weit leistungsfähiger. Die Entwicklung des Geräts ist nicht an biologische Grenzen gebunden. Wenn man den menschlichen Körper der Kategorie des Technischen zuschlägt, dann gibt man ihn frei zum scheinbar grenzenlosen Umbau. Sport als Technologiefortsatz.
Die Natur ist nicht fair
Spitzensport diskriminiert. Er ist das Feld der genetischen Elite (oder Anomalie). Wir akzeptieren in ihm die natürliche Lotterie der ungleich verteilten Gaben und Begabungen. Beim finnischen Skilangläufer Eero Mäntyranta, der 1964 drei Goldmedaillen gewann, fand man heraus, dass er aufgrund einer natürlichen Genmutation 40 bis 50 Prozent mehr rote Blutkörperchen aufwies als seine normalen Gegner. Natürliches Doping? Basketballspieler wie der Chinese Yao Ming mit 2,29 Metern Körpergrösse und Schwimmer mit enormen Füssen wie Ian Thorpe (Schuhgrösse 52) haben einen natürlichen Vorteil. Unfair?
Die Natur ist nicht fair. Und sie redet zweifellos im Sport mit. Bis dato hatte sie eigentlich das führende Wort. Das beginnt sich zu ändern. Erstens stehen heute Gentests zur Verfügung, die das Potenzial eines Menschen bestimmen lassen – was heisst, dass die Lotterie immer mehr beeinflusst werden kann. Zweitens gibt es Philosophen wie z.B. Julian Savulescu in Oxford, die diese Zufallsmanipulation nachgerade zum sportethischen Gebot der Aufhebung natürlicher Ungleichheit erheben: «Dadurch, dass wir allen leistungssteigernde Mittel erlauben, ebnen wir das Spielfeld.» Wer nicht dopt, ist selber schuld. So gesehen, liesse sich Armstrong sogar Absolution erteilen: Auf dem «ebenen» Feld der Tour de France, wo wahrscheinlich die meisten Fahrer von «little helpers» assistiert waren, hat er einfach das Beste aus diesen herausgeholt.
Sportliches Bio-Enhancement
Das Argument führt uns trotzdem auf ein eher abschüssiges Spielfeld. Gerade die Körpergrösse ist ein gutes Anschauungsbeispiel. Sie lässt sich manipulieren. Seit längerem werden Wachstumshormone bei Kindern appliziert, die aufgrund eines hormonellen Defizits kleinwüchsig sind. Diese Hormone wirken auch bei Kindern ohne Defizit. Was schnell die Frage aufkommen lässt: Macht es denn einen Unterschied, wenn Kinder aufgrund einer biologischen Anomalie oder aufgrund ihres «normalen» elterlichen Erbes kleinwüchsig sind? Ist es nicht ein Gebot der «Fairness», allen Kindern die Möglichkeit zu gewähren, grösser als von Natur aus zu sein?
Hier macht sich die typische egalisierende Wirkung bemerkbar, die neue Technologien haben können. Eltern, die unglücklich sind über die Körpergrösse ihres Kindes (meist ihres Sohnes), können nun je nach ihren Vorstellungen und Begehrlichkeiten Nachkommen nach Mass konzipieren: Wir möchten gern einen Sohn à la Michael Jordan.
Man muss sich die abgründige Doppeldeutigkeit dieser Entwicklung vor Augen führen: «Konzeption» hat nun nicht mehr den altmodischen Sinn der Empfängnis, sondern buchstäblich des Entwurfs. Was ursprünglich als Mittel gedacht war, ein biologisches Defizit zu beheben, wird am Ende zum Werkzeug, die Biologie nach eigenen Vorstellungen zu korrigieren. Bio-Enhancement nennt sich das heute.
Transhumanismus
Es ist nicht einmal so sehr das Wettrüsten selbst, das uns zu denken geben sollte, sondern die Motivation, der Wille dahinter. Eine Grenze beginnt sich aufzulösen, die herkömmlicherweise theologisch definiert wurde. Wie halten wir es eigentlich mit der Mitgift unserer Natur, mit unserer Kreatürlichkeit? Letztere bedeutet ja – nicht-theologisch formuliert –, dass wir unser Sosein akzeptieren, unsere Stärken und Schwächen, Talente und Defizite. Was selbstredend nicht heisst, uns mit dem, was wir mitbekommen haben, zu bescheiden. Im Gegenteil: Sport strebt nach Exzellenz, und Exzellenz basiert auf einer Mixtur aus Lotterie und harter Arbeit.
Die harte Arbeit wird nun freilich immer mehr unterstützt durch die neuen Mittel der Human-Melioration. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Bis jetzt verstanden wir unter «menschlich» das, was wir aus dem von der Natur Gegebenen machen. Gewiss, wir ergänzen und verbessern diese Gabe seit alters mit Prothesen jeder Art. Trotzdem stand bislang unsere «Natur» nicht in Frage. Genau sie aber wird durch das Bio-Enhancement herausgefordert. Menschsein bedeutet nun für eine Avantgarde, das Menschsein hinter sich zu lassen: Transhumanismus. Und in dieser Sicht werden wir uns abgewöhnen zu fragen, was von der Natur und was von der Technik stammt.
Die Tretmühle
Noch ist es nicht soweit, aber das Verwischen der Grenze zwischen Eigen- und Fremdleistung gefährdet die Aura des Athleten permanent. Und hier zeigt sich das tiefe Paradoxe in der Conditio techno-humana: Wir wollen im Sport Eigenleistung trotz der wachsenden Zudringlichkeit der künstlichen Fremdleistung sehen. Wir wollen also Authentizität in zunehmend unauthentischeren Lebensumgebungen.
Das Skandalon liegt gar nicht so sehr im Doping, sondern im Umstand, dass man dem wissenschaftlich-industriell-wirtschaftlich-medialen Riesenkomplex Spitzensport nach wie vor den Mantel der «sauberen» athletischen Eigenleistung umhängen möchte; dass man Sportler im Namen eines Ethos verurteilt, welches in der Realität keinen Platz mehr hat; dass man immer noch und immer wieder so tut, als bekäme man die Tretmühle unter Kontrolle. Der dopinggeständige Fahrer Jörg Jaksche hat die Situation mit schlagender Lakonie so beschrieben (Spiegel Online, 7.7.2007): «Nur wer dopt, gewinnt. Nur wer gewinnt, kommt in die Medien. Nur wer in den Medien ist, macht seine Sponsoren glücklich. Nur glückliche Sponsoren geben auch im nächsten Jahr noch frisches Geld.»
Das verlorene Spiel
Kann man aus dieser Tretmühle ausbrechen? Man müsste, um Doping in seinem vollen Umfang wahrzunehmen, weiter ausholen und den «Geist» des Sports herbeizitieren. Die WADA (World Anti-Doping Agency) z.B. charakterisiert ihn in einer langen Liste von Werten wie Fairness, Ehrlichkeit, Gesundheit, Hochleistung, Charakter, Solidarität, Respekt vor dem Gegner und mehr.
In der Liste fehlt auf eine schon fast schreiende Art der Spielcharakter des Sports. Ist er zu selbstverständlich, um explizit genannt zu werden? Ich vermute das Gegenteil. Im Grunde sind wir heute Zeugen eines tiefen und schleichenden Charakterwandels des Sports. Wenn wir bisher (und immer noch) in der sportlichen Leistung unsere natürlichen Gaben bewundern und schätzen, so ist doch festzustellen, dass die Technisierung und in ihrem Gefolge die Ökonomisierung auch das Ziel der sportlichen Aktivität umdefiniert.
Die Süssholzraspler der hehren Werte täuschen uns kaum noch darüber hinweg, dass der Sport prioritär an seinem Unterhaltungswert und an Publikumszahlen gemessen wird. Natürlich betreiben wir Sport auch um des Vergnügens willen. Aber die intensive Bewirtschaftung des Vergnügens raubt ihm genau das, was Schiller auf den Punkt brachte, als er schrieb: Im sportlichen Spiel überwinden wir den Zwang der Naturgesetze.
Heute müsste es heissen: den Zwang der Marktgesetze. Der Mensch ist nur da ganz Sportler, wo er spielt. Und gerade im Spiel liegt ja der Ansatz der Erziehung zur Freiheit. Wir sollten dieses Motiv als eine vorwärtsblickende Nostalgie hüten, gerade in einer Gesellschaft, die dem Spiel seinen befreienden Charakter auszutreiben beginnt.