Die apokalyptischen Bilder aus der indischen Hauptstadt suggerieren zunächst dies: Eine Bevölkerung, die dem schleichenden Tod ausgeliefert ist. Aber es ist nicht nur der Tod, der auf sie lauert. Ebenso präsent ist eine Leerstelle: die Absenz des Staats; ungeahnte Erfahrung, dass „ihre“ Regierung unfähig ist, Leib und Leben zu schützen.
Mehr als in anderen Städten und Regionen sind es Delhiwallahs gewohnt, bei Erkrankungen ein Spital aufzusuchen. Sie werden von Ärzten und Pflegerinnen betreut, vielleicht auch an Geräte gekoppelt, die ihr Leiden diagnostizieren und sie am Leben erhalten. Falls Teile dieser Dienstleistung ausfallen oder minderwertig sind, gibt es Mittel, den Weg zu ebnen.
Wir sprechen schliesslich von der stolzen Hauptstadt des zweitgrössten Staats der Welt. Der Gliedstaat Delhi ist (auf die Bevölkerungszahl gerechnet) die Region mit den meisten Spitalbetten, Ärzten und Pflegepersonen des Landes. Es ist auch – kein Zufall – die Stadt, in der sich die Machtelite des Landes konzentriert, mit den meisten Politikern, Journalisten, Richtern, Akademikern, Anwälten, und, nach Mumbai, den reichsten Unternehmern des Landes.
Anschein einer Endzeit
Delhi ist Indiens Leuchtturm, der weit über seine Grenzen wahrgenommen wird, auch wenn er das weite Land um sich herum in tiefe Schatten legt. Doch nun sind es die Feuertürme der Krematorien, die in die Welt hinaus leuchten. Sie geben dem Glanz der Kapitale, die unter Modi von ihrer kolonialen Vergangenheit gereinigt werden soll, den Anschein einer Endzeit.
Das Augenmerk der Welt sollte nun auf die Schatten des weiten Landes rund um Delhi gehen und fragen: Wenn in dieser urbanen Machtballung täglich über hundert Menschen sterben, weil sie „das System“ im Stich lässt – wie sieht es dann in der Schattenwelt der Dörfer aus? Drastisch ausgedrückt: Wenn die Gesundheitsversorgung in einem Gliedstaat zusammenbricht, in dem auf 1000 Personen ein Arzt kommt, wie sieht es dann in Bihar aus, wo ein Arzt 28’000 Personen versorgen muss?
Das rasante Hochschnellen der Infektionen, gekoppelt mit einer Erhöhung ihrer Letalität, wurde zuerst in der Öffentlichkeit der Grossstädte Mumbai, Delhi und Bangalore wahrgenommen. Es stellte sich die Frage, ob die zweite Covid-Welle die Metropolen überrannte, weil dort locker mit Vorbeugemassnahmen umgegangen wurde wegen des Konsumdrangs der begüterten Mittelklasse, die endlich wieder „leben“ wollte.
Mantel des Schweigens
Allerdings begann die zweite Welle vor zwei Monaten in ländlichen Bezirken des Gliedstaats Maharashtra. Die Infektionen griffen dann auf die Provinzstädte über, bevor sie in Mumbai hochschnellten. Auch der „Doppelmutant“ – „die indische Variante“ B.1.617 – wurde etwa 500 Kilometer östlich von Mumbai zuerst festgestellt, und dies bereits im Dezember 2020. Als die genetische Sequenzierung des Moleküls endlich erfolgte, war die Variante bereits in sechzig Prozent der Infektionen nachzuweisen.
Dennoch ertönten lange keine Alarmglocken. Dies hat gewiss mit der Konzentration der Medien-Scheinwerfer auf die Städte zu tun, in denen die meisten Medienschaffenden zuhause sind. Aber diese mediale Leerstelle ist vielleicht dem Verhalten vieler Dorfbewohner zuzuschreiben, das ich auch hier in meiner Wohngegend Alibagh feststellte: Es ist, als habe sich ein Mantel des Schweigens – der Scham – um die Ansteckungen gelegt. Das Ominöse sind nicht die Sirenen und verzweifelten Hilferufe vor den Spitaltoren, sondern die Stille.
Ein ehemaliger hoher Staatsbeamter aus Delhi, der sich hier niedergelassen hat, hat eine Reihe von Dörfern besucht und sich erkundigt. In jedem Weiler gebe es Dutzende von Ansteckungen – aber kaum jemand wolle darüber reden. „Man sieht keine Ambulanzen, nirgends hört man Lautsprecher oder sieht man Posters, die Leute zu Vorsicht und Distanzhalten aufrufen.“ Angehörige mit schweren Atembeschwerden würden in der Nacht mit Privatautos in Krankenhäuser nach Mumbai gebracht, weil das Bezirksspital ohnehin nur wenige Betten mit Beatmungsgeräten und Sauerstoff-Anschlüssen hat.
Weiterhin Wahlkampf
Nur in einem gleichen sich die Bilder von Delhi und dem Dorf: Beinahe in allen Krematorien, an denen ich vorbeikomme, liegen Anzeichen regen Gebrauchs – rauchende Asche oder Glut.
Doch solche Rauchzeichen genügen nicht als Erklärung. Solide politische Gründe kommen hinzu. Bis in Delhi die Feuersäule der Kremationen im globalen Medienhimmel aufleuchtete, folgten auch die BJP-Regierungen in der Provinz der Devise Narendra Modis, Covid für besiegt zu erklären und den Premierminister als grossen Sieger auszurufen.
Während die Ansteckungszahlen im ganzen Land nach oben gingen, machte der Premierminister weiterhin Wahlkampf für mehrere Provinz-Parlamente. Auch der von ihm eingesetzte Chefminister von Indiens grösstem Bundesstaat Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, liess die (Dorf-)Gemeindewahlen nachholen, die im Dezember verschoben worden waren.
Die Überbringer der schlechten Nachricht
Mehrere hunderttausend Arbeitsmigranten kehrten zurück, um zu wählen, und so taten es viele tausend Besucher der Kumbh Mela. Niemand kümmerte sich um die Covid-Bekämpfung ausser den schlecht bezahlten Sozialarbeiterinnen. Die Amtsdauer der Dorfräte war im Dezember abgelaufen, und die Regierung versäumte es, sie bis zu den nachgeholten Wahlen weiter zu beschäftigen.
Eine kleine Meldung, im Innern meines Leibblatts begraben, hatte für mich Signalwirkung. Sie betraf eine Petition an das Obergericht von Uttar Pradesh. Gemäss ihr waren 135 Polizeibeamte beim Sicherheitsdienst rund um die Wahlveranstaltungen und -lokale an COVID erkrankt – und gestorben. Eine derart hohe Opferzahl unter einer relativ kleinen Personengruppe – das liess Schlimmes befürchten. Später zeigte sich, dass das Virus, im Gegensatz zum letzten Jahr, eine unerhörte Virulenz entwickelt hat: Zwischen 600 und 700 Lehrer – die üblichen Betreuer der Wahllokale – waren im Dienst gestorben.
Dennoch wurden keine verlässlichen Zahlen freigegeben. Dafür nahm Chefminister Adityanath die Überbringer der schlechten Nachricht aufs Korn. Personen, die solche Gerüchte in die Welt setzten, würden verhaftet, ihr Besitz beschlagnahmt. Es war keine leere Drohung. Mehr als ein Dutzend Journalisten wurden in UP bereits in Gewahrsam genommen.
Die meisten Menschen sterben zuhause
Die Drohung bewirkte jedoch das Gegenteil. Viele junge Journalisten und Journalistinnen aus der digitalen Medienszene nehmen diese Zahlen nun zum Anlass, sich vor Ort umzusehen. Auch sie bekommen nicht Leichenfeuer zu sehen, keine ineinander verkeilte Ambulanzen mit Blaulicht, sondern geschlossene Häuser und manchmal leere, vergammelte Primary Health Centers (PHC).
Zum Verbergen des Ansteckungs-Stigmas kommt oft das Fehlen einer medizinischen Basis-Infrastruktur hinzu. In weiten Teilen Nordindiens (und im Gegensatz zu Südindien) sind die PHCs, die erste Anlaufstelle für Krankheit und Unfall, oft geschlossen, weil sie gar nicht funktionsfähig sind. Die meisten Menschen sterben zuhause, ihr Tod wird als „Bimar“ – Fieber – vermerkt. (Die Staaten Bihar, Madhya Pradesh Rajasthan und Uttar Pradesh werden im Volksmund seit langem „Bimaru“-Staaten genannt.)
Entweder fehlt es an Personal oder die medizinischen Geräte sind am Verrosten. Selbst die Bezirksspitäler sind unterversorgt. Im letzten Jahr hatte die Regierung angekündigt, für 162 ländliche Bezirke Produktionsstätten für Sauerstoff zu installieren. Eine Untersuchung des Webportals Scroll.in ergab, dass nur 31 Bezirke damit versorgt wurden, und nur 25 funktionieren.
Landesweiter Flächenbrand
Es fehlt aber nicht nur die Spitalausrüstung. Der prominente Herzchirurg Devi Shetty meinte bei einer TV-Diskussion, Indien verfüge über eine moderne Industrie, die in einigen Monaten die technische Infrastruktur bereitgestellt haben wird.
Und tatsächlich lässt sich beobachten, dass sich überall im Land junge Bürger ins Zeug geworfen haben. Sie arbeiten mit Spitalgeräte-Herstellern, beheben Finanzierungs- und Nachschub-Engpässe und nehmen die rasche Verteilung von Betten, Sauerstoffgeräten, Beatmungsgeräten und Notstromgeräten an die Hand. Sie zeigen, dass Indien, wenn es will, auch handeln kann.
Dennoch befürchtet Shetty, dass sich die Feuerpunkte in Delhi zu einem landesweiten Flächenbrand ausweiten werden. Der Grund ist das fehlende Personal. Berichte aus Nordindien bestätigen dieses düstere Szenario. Immer wieder stossen Journalisten auf eingerichtete Sauerstoff- und Beatmungsgeräte, die verstauben, weil keine Techniker vorhanden sind, die sie bedienen und warten. Dasselbe gilt für Ärzte und Pflegepersonal. In Bihar sind von 11645 ausgeschriebenen staatlichen Arztstellen nur 2877 besetzt.
Verachtung für rationale Ansätze
Für Dr.Shetty, einen Pionier der sozial orientierten Telemedizin, hilft nur eines: Die Regierung muss Personal mobilisieren, will sie eine Katastrophe verhindern. Sein Vorschlag: Rekrutierung der 150’000 Medizinstudenten im letzten Ausbildungsjahr und der 200’000 Pflege-Anwärterinnen, die ebenfalls vor ihrem Abschluss stehen. Sie sollen in einem „Covid Emergency Corps“ eingesetzt werden und sich damit ihre spätere Zertifizierung verdienen.
Man darf bezweifeln, ob der Premierminister solchem „Out oft the Box“-Denken zustimmen wird. Der rote Faden, der sich durch Modis Regierungsführung zieht, ist seine Verachtung für rationale Ansätze und Konsens-Entscheide. So wurde die wissenschaftliche Task-Force im ganzen Februar und März nie zusammengerufen. Als Modi vor zehn Tagen seine Impfstrategie bekanntgab, erfuhren es die Wissenschafter (ebenso wie die Provinzregierungen) aus den Medien.
Ihn interessiere „hard work, not Harvard“, lautet einer seiner geliebten Schüttelreime. Was Modi nicht daran hinderte, im Januar 2021 beim Jahrestreffen des WEF aufzutreten. Er erinnerte die virtuell zugeschaltete globale Elite daran, dass ihm die Menschheit zu Dank verpflichtet sei. Denn er habe achtzehn Prozent der Weltbevölkerung – Indiens Anteil – sicher durch die Covid-Krise geführt.