„Darf ich eine Zeitung nehmen“, frage ich vom Nebentisch aus, „haben Sie sie schon gelesen?“.
„Nehmen sie, was sie wollen, ich lese keine Zeitung mehr. Der Inhalt der Zeitungen macht mich krank, die italienische Politik macht mich krank“.
„Aber da helfen Sie ja niemandem, wenn Sie keine Zeitung mehr lesen“.
Fast wütend sagt er: „Doch, ich helfe mir und meiner Gesundheit, wenn ich nicht all die Details über diesen Scharlatan erfahre – und meine Gesundheit ist mir wichtig“.
“Wir sind ein Volk von Dummköpfen“
Der Herr stellt sich vor. Er ist Anwalt in Rom. Keineswegs ein Linker. „Ich habe nie für die Linke gestimmt“. Es ist der Tag, der 6. April, an dem in Mailand der „Ruby“-Prozess beginnt. „Was halten Sie denn von diesem Prozess?“
„Hören sie auf damit, ich kann das alles nicht mehr hören. Berlusconi wird sich aus der Schlinge ziehen, nichts wird passieren, nichts wird sich in Italien je ändern. In Italien verändert sich nie etwas. Wir sind ein Volk von Dummköpfen“.
So wie der ältere Advokat im „Caffé della Pace“ denken heute viele Italiener. Das Land ist von einer tiefen Lethargie erfasst. Nichts bewegt sich. Alles dreht sich nur um Berlusconis Privataffären. Dass er die damals minderjährige Karima al-Mahroug, alias „Ruby“, für Sex bezahlte – davon sind fast alle überzeugt.
Schliesslich hat sie 14 Mal in seiner Villa übernachtet und Geschenke im Wert von 300‘000 Euro erhalten. Doch ebenso überzeugt sind die Italiener, dass der Premierminister Wege finden wird, alles zu verzögern und zu verwässern. An eine Verurteilung glaubt kaum jemand.
Mit seiner Verzögerungs- und Verwässerungstaktik hat Berlusconi wenige Stunden vor Prozessbeginn einen wichtigen Etappensieg errungen. Mit einer Mehrheit von zwölf Stimmen hat das italienische Abgeordnetenhaus am Dienstag entschieden, dass das Mailänder Gericht in Sachen Ruby nicht zuständig ist. Die Abgeordneten folgten damit einem Antrag Berlusconis.
Berlusconis Mehrheit hält
Dieser jubelte nach dem Entscheid. Vor allem jubelt er, weil er im Parlament eine recht komfortable Mehrheit von zwölf Stimmen zusammenbrachte. Damit strafte er all jene Lügen, die behaupten, seine Hausmacht breche zusammen. „Die Mehrheit hält“, (La maggioranza regge) frohlockte am Mittwoch die Berlusconi-freundliche Zeitung „La Nazione“ auf der Frontseite.
Nach diesem Entscheid muss nun das italienische Verfassungsgericht entscheiden, wer zuständig für den Prozess ist: Ist es doch die Mailänder Justiz oder ist es ein sogenanntes Ministertribunal? Ein solches wäre ein spezielles Gericht, das Minister, auch Premierminister richten soll. Ein Entscheid wird nicht vor März des nächsten Jahres erwartet. Würde das Verfassungsgericht entscheiden, dass der „Caso Ruby“ ein Fall für ein Ministertribunal ist, käme wieder die Politik zum Zuge. Das Parlament würde dann wohl entscheiden, dass Minister gar nicht gerichtet werden dürfen – vorausgesetzt Berlusconi besitzt dann noch die Mehrheit im Parlament.
Das alles schliesst nicht aus, dass der jetzt begonnene Prozess gegen Berlusconi vorerst weitergeführt wird. Wie erwartet erschienen weder Berlusconi noch Ruby zur Prozesseröffnung. Nach sieben Minuten war alles schon vorbei. Der Prozess wurde auf den 31. Mai vertagt.
Legt Berlusconis Partei wieder zu?
Berlusconi verbreitet Zuversicht. „Selbstverständlich“ werde er am 31. Mai zur Wiederaufnahme des Prozesses erscheinen, „vorausgesetzt die Amtsgeschäfte hindern mich nicht daran“. Gleichzeitig posaunt er eine Meinungsumfrage in die Nation hinaus, die belegen soll, dass seine Partei wieder zulegt. Laut Berlusconi würden heute 29,7 Prozent der Italiener für seine Pdl-Partei stimmen. Die Lega Nord käme auf 11 Prozent und die linke Oppositionspartei Partito Democratico (PD) auf über 27 Prozent. Der sogenannt „Dritte Pol“ würde weniger als 10 Prozent auf sich vereinigen, und Berlusconis neuer Hauptfeind Gianfranco Fini käme auf nur 2 Prozent. Der Ministerpräsident bezieht sich auf eine Umfrage des Instituts „Euromedia“. Wie weit diese Zahlen zuverlässig sind, ist umstritten.
Vielleicht wird Berlusconi tatsächlich zum Prozess am 31. Mai erscheinen. Als sicher gilt, dass er alles versuchen wird, das Verfahren zu verzögern. Bald wird er sagen, er könne doch nicht vor einem Gericht erscheinen, dessen Zuständigkeit nicht geklärt sei.
Die Richter – „schlimmer als die Roten Brigaden
134 Journalisten liessen sich zur heutigen Prozesseröffnung beim Gericht akkreditieren. Sicher ist: Das öffentliche Interesse an diesem Prozess-Auftakt war im Ausland grösser als in Italien selbst. Die Italiener wissen ja längst schon alles.
Seit Monaten werden sie von den Zeitungen mit den intimsten Details der Sex-Praktiken ihres Premierministers gefüttert. Täglich kommen neue Informationen dazu. Wieder wurden Abhörprotokolle von Telefongesprächen Berlusconis veröffentlicht. Diese Woche ist es das Magazin „L’Espresso“, das an der Reihe ist. Da flüstert Berlusconi einer Aris Espinosa zu: „Ich befinde mich im Krieg, in einem harten Krieg. Wenn ich diesen Krieg gewonnen habe, werde ich deine wunderschönen, süssen Lippen streicheln“.
„Na, und?“ sagen sich die Italiener. Sie sind sich solcher Indiskretionen längst überdrüssig. Alles wird sein Monaten ausgewalzt. Jahrelang hatte Berlusconi die Richter als rote Deppen bezeichnet. Diese rächen sich jetzt, indem sie den Zeitungen alle Verhörprotolle und Telefon-Mitschnitte zuspielen. Gestern setzte Berlusconi noch eins drauf: Die Richter seien „schlimmer als die Roten Brigaden“.
Hunderttausende italienischer Mädchen möchten Ruby sein
Die Zeitung „Repubblica“ druckt jetzt die Fotos von elf Frauen, die von der Staatsanwaltschaft als Zeugen geladen wurden. Sie sollen offenbar gesehen haben, dass Berlusconi mit Ruby ein Verhältnis hatte. Sie heissen Ioana Claudia, Lisney, Cuneta, Marianna, Manuela, Marinea, etc. etc. „Eine mehr oder weniger, was soll’s ?“ sagen die Italiener. Der keineswegs linksstehende « Corriere della Sera » berichtete jüngst, dass Berlusconi im letzten Jahr seine Escort-Frauen mit Geschenken im Wert von 34 Millionen Euro überhäuft hat. Auch diese Information stiess auf wenig Interesse.
Zudem haben viele Italiener Ruby, das Mädchen aus der Gosse, längst in ihre Herzen geschlossen. Sie, in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, von ihren Angehörigen verprügelt und offenbar auch vergewaltigt – wie kann man es ihr verübeln, dass sie nach Ruhm und Geld strebt – und es vielleicht sogar mit einem Premierminister treibt? Hunderttausende italienischer Mädchen möchten Ruby sein.
Sollte der Prozess dann einmal richtig losgehen, wird sich natürlich auch Italien interessieren. Dann, wenn 132 Zeugen geladen sind. Dann, wenn George Clooney und Fussballstar Cristiano Ronaldo zugunsten von Berlusconi aussagen werden. Doch wann wird der Prozess wirklich losgehen? Geht er einmal wirklich los?
Den Italienern ist das alles im Moment ziemlich egal. Andere Sorgen und Themen beschäftigen sie in diesen Tagen. Viele gedenken des Erdbebens von L’Aquila, das heute vor zwei Jahren stattfand und 309 Tote forderte. Doch die grösste Sorge gilt den nordafrikanischen Immigranten, die in Massen über Lampedusa ins Land strömen. Bereits formieren sich Bürgerwehren, die die Platzierung der Nordafrikaner mit Gewalt verhindern.
Ruby, auch eine Nordafrikanerin, kann das alles egal sein. Sie steht im Rampenlicht, sie ist schon jetzt ein Star. Der Rummel um sie steigert ihren Marktwert. In vielen Fernsehauftritten hat sie bewiesen, dass sie reden kann. Bald wird sie nicht nur reden, bald wird sie auch als Sängerin auftreten.