Netanyahu sei nun der „King of Israel“, schrieb dieser Tage ein Kommentator in der regierungskritischen Zeitung „Haaretz“. Der für eine parlamentarische Demokratie etwas kuriose Titel steht im Zusammenhang mit dem jedermann überrumpelnden Deal des Regierungschefs, die bereits angekündigten vorgezogenen Neuwahlen in letzter Sekunde abzublasen und stattdessen die Kadima-Partei in sein Koalitionsschiff aufzunehmen. Die einst von Sharon als Abspaltung von der Likud-Partei gegründete Kadima ist zahlenmässig immer noch die grösste Formation in der Knesset.
Iran als Ablenkungsmanöver
Mit diesem Streich verfügt Netanyahu jetzt über eine breite Mehrheit von über 90 Sitzen im 120köpfigen Parlament. Damit ist er als Regierungschef rechnerisch auch weniger abhängig oder erpressbar von den verschiedenen nationalreligiösen Parteien, zu denen auch die ultrachauvinistische Formation seines Aussenministers Liebermann gehört. Shaul Mofaz, der neue Führer der Kadima und früherer Generalstabschef der Armee hat bei diesem überraschenden Schachzug mitgespielt, weil er befürchten musste, dass seine angeschlagene Partei bei Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt radikal dezimiert worden wäre. Noch vor kurzem hatte er als Oppositionsführer Netanyahu als Lügner beschimpft und namentlich dessen aussenpolitischen Kurs als verderblich für Israel kritisiert.
Selbst Netanyahus Gegner müssen einräumen: dem durchtriebenen Taktiker und Opportunisten ist ein schlaues Manöver gelungen, das ihm voraussichtlich bis zum fälligen Wahltermin Ende nächsten Jahres eine überragende und kaum anfechtbare Machstellung in Israel sichert. Sofort schossen Spekulationen ins Kraut, ob Netanyahu eventuell diese innenpolitische Macht zu einem Militärschlag gegen die Atomeinrichtungen des Iran nutzen könnte – eine Drohung, die er vor einigen Wochen noch mit zunehmender Schärfe als mögliche Option verkündet hatte.
Doch dieses Thema hat zumindest für die nächsten Monate wenig Realitätsgehalt. Nachdem selbst zwei ehemalige israelische Geheimdienstchefs das vordergründige Säbelrasseln Netanyahus – die verschärften wirtschaftlichen und politischen Sanktionen des Westens gegen Teheran wurden kaum gewürdigt - öffentlich als verantwortungslos und dürftig begründet zerzaust hatten, hat dieser seine Rhetorik in der Iran-Frage zurückgeschraubt. Ohnehin gab es für nüchterne Beobachter wenig Zweifel, dass die israelische Regierung ohne aktive politische und militärische Unterstützung durch Washington kaum ernsthaft daran denken würde, sich in das Abenteuer einer Bombardierung der unterirdischen iranischen Nuklearanlagen zu stürzen. Und dass Präsident Obama vor der Entscheidung um seine Wiederwahl im November grünes Licht für ein derart hochriskantes Unternehmen geben könnte, kann man wohl praktisch ausschliessen.
Israels existenzielles Hauptproblem
So stellt sich die Frage, wie Netanyahu seine innenpolitisch gefestigte Machtposition während der nächsten anderthalb Jahre nutzen wird. Einfach weiter wie bisher regieren, den Siedlungsausbau unbekümmert um frühere Versprechungen und den aussenpolitischen Schaden für Israel vorantreiben, die Konkurrenten durch trickreiches Taktieren im Schach halten und sich dem Hochgefühl einer vorläufig ungefährdeten Machtfülle hingeben? Mag sein, dass Netanyahu das genügt. Und dass er ausserdem überzeugt ist, damit seinen eigenen Interessen und diejenigen Israels am besten zu dienen.
Doch Taktiker dieser Art haben wenig Aussicht, auf der grossen politischen Bühne als bedeutende Staatsmänner respektiert zu werden oder gar als herausragende Figuren in die Geschichtsbücher einzugehen. Wenn Netanyahu nichts Besseres zur Lösung von Israels existentiellem Hauptproblem - der Palästinenserfrage - einfällt, als die Siedlungsexpansion im besetzten Westjordanland ungehemmt fortzusetzen und allen glaubhaften Bemühungen um eine Verhandlungslösung auszuweichen, dann wird er mit Sicherheit nie in den Ruf eines souveränen Staatsmannes kommen.
Was will der neue Koalitionspartner Mofaz?
Doch selbst wenn ihn solche Lorbeeren nicht interessieren sollten, ist nicht auszuschliessen, dass Netanyahu innerhalb seines Kabinetts in nächster Zeit stärker unter Druck kommen könnte, sich endlich für eine glaubwürdige Politik zur Lösung der Palästinenserfrage zu engagieren. Sein neuer Koalitionspartner Mofaz von der Kadima-Partner hat sich jedenfalls für aktivere Bemühungen ausgesprochen, um die seit bald drei Jahren praktisch blockierten Verhandlungen mit den palästinensischen Führung um Mahmoud Abbas wieder in Gang zu bringen.
Solange Netanyahu sich jedoch weigert, die illegale Siedlungexpansion im Westjordanland selbst während Verhandlungen mit den Palästinensern auszusetzen, wird ein konstruktiver Dialog mit Abbas auch nicht zustande kommen. Wie kann man glaubwürdig über die Aufteilung eines Kuchens verhandeln, wenn eine Partei (Israel) während der Verhandlungen sich ungerührt laufend neue Stücke des Kuchens einverleibt?
Bisher hatte Netanyahu gegen aussen immer wieder durchblicken lassen, dass er einen Siedlungsstopp nicht akzeptieren könne, weil sonst seine Regierungskoalition wegen des Widerstandes der nationalistischen und ultrareligiösen auseinanderbrechen würde. Mit der zentristischen Kadima-Partei an Bord können die ultrakonservativen Parteien nicht mehr das Zünglein an der Waage spielen. Damit fällt auch Netanyahus Ausrede in sich zusammen, dass er aus Gründen der Koalitionsarithmetik sich nicht für einen Siedlungsstopp entscheiden könne.
Erinnerung an Begin und Sharon
Dennoch spricht wenig dafür, dass der israelische Regierungschef sich in nächster Zeit eines Besseren besinnen und sich für ernsthaft für eine Lösung der Palästinenserfrage engagieren könnte. Auch in Israel sind viele Beobachter davon überzeugt, dass Netanyahu die Schaffung eines eigenen Staates für die Palästinenser aus tiefster Seele verhindern will – obwohl er vor drei Jahren ein Lippenbekenntnis zu diesem Ziel abgegeben hatte. Daran dürfte auch der unlängst erfolgte Tod seines 102jährigen Vaters kaum etwas geändert haben: Der Historiker Benzion Netanyahu war ein kompromissloser Anhänger der Gross-Israel-Ideologie und ehemaliger Sekretär des revisionistischen Zionistenführers Jabotinsky, der an keine friedliche Koexistenz mit den Arabern glaubte. Er soll die Denkweise seines Sohnes tief beeinflusst haben.
Indessen sind unerwartete Kehrtwendungen in der Politik, wie uns die Geschichte an unzähligen Beispielen lehrt, nie auszuschliessen. Netanyahus Likud-Vorgänger Menachem Begin hatte nach dem Yom-Kippur Krieg dem von Jimmy Carter vermittelten Friedensabkommen mit dem damaligen ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat zugestimmt und als Preis dafür die zuvor eroberte Sinai-Halbinsel an Kairo zurückgegeben – ein Schritt, der ihm von den Ultranationalisten im eigenen Lager übel angekreidet wurde. Selbst der Haudegen Sharon – er liegt seit sechs Jahren unheilbar im Koma – hatte 2005 die jüdischen Siedlungen im Gaza-Streifen räumen lassen, obwohl er zuvor erklärt hatte, jede dieser illegalen Niederlassungen sei für Israel genauso wichtig wie die Grossstadt Tel Aviv.
Was die genauen Motive für Sharons Abkehr von einem früheren Dogma gewesen sein mögen, ist nie eindeutig geklärt worden - viele Beobachter sahen darin nur einen taktischen Ballast-Abwurf, um das viel wichtigere Westjordanland umso fester im Griff zu behalten. Netanyahu gehörte damals zu den schärfsten innenpolitischen Kritikern von Sharons Gazastreifen-Räumung. Doch jedermann weiss, dass Netanyahu neben seiner Gross-Israel-Ideologie auch ein mit allen Wassern gewaschener Opportunist ist. Schon deshalb wäre es unrealistisch, jegliche Möglichkeit einer israelisch-palästinensischen Annäherung apodiktisch auszuschliessen, solange Netanyahu an der Macht bleibt. Auch Opportunisten und Ideologen muss im Übrigen der Ehrgeiz nicht fremd sein, später einmal als bedeutende Staatsmänner in den Geschichtsbüchern zu figurieren.
Ungenutzte Waffe der Palästinenser
Mit zu bedenken bleibt schliesslich die Politik der Palästinenser. Deren Führung ist weiterhin tief zerstritten. Obwohl die im Gazastreifen herrschenden Hamas-Oberen und die im Westjordanland regierende PLO vor Monaten Versöhnung gelobten, haben die beiden Machtcliquen immer noch keine gemeinsame Regierung zustande gebracht. Auch in Bezug auf ihre grundsätzlichen Ziele klaffen weiterhin tiefe Gräben zwischen den palästinensischen Eliten. Die Hamas lehnt in ihrer Charta und teilweise in ihrer aktuellen Rhetorik jedes Existenzrecht für Israel kategorisch ab. Die PLO unter der Führung von Abbas bekennt sich zum in den Oslo-Verträgen festgeschriebenen Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung. Die Uneinigkeit der palästinensischen Führung spielt den kompromissunwilligen Kräften in Israel bequem in die Hände. Und sie schadet der Solidarität mit dem palästinensischen Grundanliegen auf einen eigenen, unabhängigen Staat.
Die schärfste Waffe, Netanyahu politisch ernsthaft in Bedrängnis zu bringen, wäre eine umfassend koordinierte palästinensische Kampagne des massenhaften, aber gewaltlosen Widerstandes gegen die israelische Besetzung. Dies mit langem Atem und ergänzt durch ein eindeutig formuliertes Angebot zu einer Zweistaatenlösung im historischen Palästina. Darüber wird zwar gelegentlich diskutiert, aber von einer überzeugenden Umsetzung war bisher nichts zu sehen.