Ein aufgeblähter und träger Beamtenapparat, der jeder Naturkatastrophe ins Messer läuft: Das ist das Image, das dem indischen Staat anhaftet. Dass es auch anders geht, zeigte der jüngste Super-Zyklon in Odisha. Dort gelang es der lokalen Regierung, innerhalb von 48 Stunden eine Million Menschen in Sicherheit zu bringen.
Gute Nachrichten von einer Naturkatastrophe
Drei Berichte über Naturereignisse beherrschten die Frontseite des ‚Indian Express‘ am 14.Oktober. Zwei von ihnen hatten zwar einen religiösen Hintergrund – es ging um das neuntägige Dassehre-Fest der Grossen Göttin, in dem sie den Büffeldämonen erlegt. Doch Religion ist ein Naturereignis in Indien, denn die Gütter können ihren Zorn mit Wirbelsturm und Dürre ausdrücken.
Die Hauptschlagzeile über den Wirbelsturm in Ostindien allerdings brachte diesmal ‚Good News‘. Gute Nachrichten von eine Naturkatastrophe? In Indien schon. Als ich die Zeitung am Montagmorgen in den Händen hielt, waren 36 Stunden vergangen, seit ein Wirbelsturm der Warnstufe 10 und mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 240 Kilometern über die südlichen Küstenbezirke von Odisha (früher Orissa) gerast war. (Zum Vergleich: Hurrikan ‚Katrina‘ hatte Gefahrenstufe 7). Vor genau vierzehn Jahren hatte ein Zyklon in derselben Region rund 10‘000 Menschen das Leben gekostet.
Sicherheit für eine Million Menschen
Damals wie heute waren es die Opferzahlen, die Schlagzeilen machten – diesmal allerdings nicht ihre Höhe, sondern das Gegenteil: Nicht mehr als dreizehn Menschen kamen ums Leben. Die Zahl lässt nicht nur im Spiegel der Katastrophe von 1999 aufhorchen. Sie hebt sich auch ab im trüben Gegenlicht der chronischen Unfähigkeit Indiens, einen wirksamen Katastrophenschutz aufzuziehen. Der jüngste Tatbeweis liegt nur einige Monate zurück, als die heftigen Regenfälle im Quellgebiet des Ganges 5700 Menschern das Leben kosteten.
Diese beiden Katastrophen standen den Behörden vor Augen, als die ersten Warnungen eingingen. Ein IT-Professor in Bombay hatte am 8. Oktober auf einer Webseite der US Navy die Bildung eines Zyklons in der Andamanen-See entdeckt. Er alarmierte die Meteorologische Zentralstelle in Delhi, diese nahm die Spur sofort auf und exptrapolierte korrekt sowohl Intensität und Beschleunigung des Sturm-Auges, wie auch den Ort, wo es Landberührung machen würde: Bezirk Ganjam, Samstag, 12. Oktober, 21 Uhr.
Der Regierungschef von Odisha aktivierte sofort den Katastrophenplan, dessen erstes Gebot die Evakuierung der Küstendörfer war. Es schien unmöglich, innerhalb von zwei Tagen rund eine Million Menschen in Sicherheit zu bringen. Der Bezirk Ganjam weist lediglich 15 Schutzbunker auf, die nach dem Zyklon von 1999 gebaut worden waren; sie reichten gerade für 15‘000 Leute.
Wer bleiben will, steht unter Suizidverdacht
Wohin sollte der verantwortliche Bezirkschef mit den restlichen 300‘000 Fischerfamilien? Sogleich wurden weitere 1045 sichere Gebäude identifiziert, meistens Schulen, die seit 1999 sturm- und erdbebensicher gebaut werden müssen. Jedes Gebäude wurde mit einem Generator und Reserve-Treibstoff ausgerüstet; Detachemente von Armee und Katastrophenschutz-Korps (letzteres übrigens mit schweizerischer Hilfe aufgebaut) wurden an Knotenpunkten postiert, um Strassen von gefallenen Bäumen und Strommasten zu befreien und Strom- und Telekom-Anlagen sofort wieder herzustellen.
Polizei-Teams schwärmten in die Fischerdörfer aus und forderten die Bewohner auf, ihre Heime zu verlassen und mit ein paar Habseligkeiten die Lastwagen, Traktoren mit Anhängern, und requirierten Busse zu besteigen. Es war kein leichtes Unterfangen, denn das Meer war ruhig, der Himmel wolkenlos – warum sollten die armen Fischer ihr ganzes Hab und Gut einfach aufgeben? 36 Stunden vor dem Herannahen des Zyklons harrten in Ganjam immer noch 150‘000 Bewohner in ihren Häusern aus. Es blieb der Polizei nichts übrig, als die widerstrebenden Familien formell wegen Suizidversuchs anzuklagen, zu verhaften und so zum Abtransport zu verknurren. Sie verordnete auch ein Ausgehverbot, und jeder Fahrer, der sich mit seinem Privatfahrzeug noch auf der Strasse zeigte, wurde zum Evakuierungsdienst gezwungen.
Der Zorn der Göttin Devi
Der Klimmzug gelang. Als der Sturm am späten Samstagabend die Küste erreichte, zerstörte er mehrere tausend Dörfer, vernichtete unzählige Boote, und riss tiefe Schneisen in die Palmenwälder. Aber praktisch alle Bewohner waren in Sicherheit, wurden verpflegt, verarztet und konnten zwei Tage später wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Dort erhielten sie eine Monatsration Lebensmittel, sowie eine Anzahlung für den Kauf von Baumaterialien und Fischernetzen.
Der indische Staat zeigte, dass er durchaus funktionsfähig ist – und gar über sich hinauswachsen kann – wenn Planung, Krisenmanagement und politischer Wille vorhanden sind. Letzteren lieferte Chefminister Naveen Patnaik. 1999 hatte er, als Minister im Zentralkabinett, ohnmächtig zuschauen müssen, wie der Zusammenbruch von Verkehr und Telekommunikation das Naturereignis in eine Katastrophe verwandelte. Im Jahr darauf gewann er die Wahlen mit dem Versprechen, dies nie mehr zuzulassen.
Auch die Religion hatte damals eine Rolle gespielt. Patnaiks Vorgänger hatte den Wetterprognosen misstraut, weil sein astrologischer Kalender keinen Wirbelsturm voraussah. Patnaik führte einen Katastophendienst ein, der genau auf ein solches Ereignis getrimmt wurde. Viele Fischerleute sahen dennoch die Hand der Göttin im Spiel. Schon vor vierzehn Jahren war der Wirbelsturm mitten im Durga Puja eingefahren, und auch dieses Jahr hörten viele im ohrenbetäubenden Donnern von Wind und Wasser das Zorngeschrei der Devi. Dass sie gerettet wurden, war für sie eher göttliche Nachsicht als menschliches Planen.
Panik auf der Brücke
Was mochten derweil die Pilger in Datia in Zentralindien gedacht haben, als sie sich am Tag nach dem Wirbelsturm über eine Brücke drängten, um Tempel am anderen Ufer Durga-Devi zu feiern? Die darauffolgenden Ereignisse waren Thema der zweiten Titelgeschichte im ‚Express’: Plötzlich das Gerücht unter der dichtgedrängten Menge auf der Brücke, diese werde gleich einbrechen. Panik bricht aus, Viele geraten ins Stolpern, fallen, Jene dahinter trampeln über ihre Leiber. 115 Menschen kamen ums Leben, nur weil, einmal mehr, die Behörden es unterliessen, den Menschentrom dosiert über die Brücke passieren zu lassen.
Oder war es wiederum Devis Rache, wie beim Wirbelsturm?, fragte der ‚Express‘ in seiner dritten Story Auch darüber soll in Wäldern von Jharkhand und Odisha, dem Rückzugsgebiet der indischen Ureinwohner, an jenem Wochenende rege diskutiert worden sein. Was mochte die Göttin denn so erzürnt haben? Für viele dieser ‚Adivasis‘ ist die Geschichte Durgas, die den Büffeldämonen tötet, ohnehin eine Erfindung der Arier und Brahmanen, und das Dassehra-Fest eine Trauerzeit.
Für sie war der Büffel nämlich kein Dämon, sondern der Stammeskönig, den die Hindu-Invasoren mit einem Trick ermordeten. Sie wussten, dass Adivasis Frauen nichts zuleide taten, und schickten deshalb die Göttin voraus, die gastfreundlich empfangen wurde – und dann den Büffelkönig erstach. Statt den Sieg der Devi, brechen die Adivasis in Klagegesänge über den Märtyrertod Mahishasuras aus. Das lässt sich die Devi nicht gefallen, und deshalb fuhr sie im Wirbelsturm übers Land. Doch hatte sich diesmal ein neuer Büffelkönig namens Indischer Staat vorgesehen und die Devi ausgetrickst? Warten wir den nächsten Sturm ab.