Am Freitag hatte im Gaza-Streifen der „Grosse Marsch zurück“, eine palästinensische Massenkundgebung, begonnen. Die Demonstration soll bis zum 15. Mai dauern. Dieses Datum ist der offizielle Erinnerungstag, an dem die Palästinenser ihrer Vertreibung gedenken.
Zeltlager wurden an fünf verschiedenen Stellen nahe der Grenzsperre errichtet, die Gaza von Israel trennt. Die Absperrung besteht aus einem Zaun und einer Todeszone. Wer sich dort hineinwagt, muss damit rechnen, von den israelischen Grenzsoldaten erschossen zu werden. Die Bevölkerung von Gaza wurde von den Palästinensern aufgefordert und ermutigt, in die Zeltlager an der Grenze zu ziehen. So sollen sie ihrem Willen, in ihre früheren Heimatgebiete „heimzukehren“, Ausdruck verleihen.
Von den zwei Millionen Bewohnern des Gazastreifens sind 1,3 Millionen Flüchtlinge, respektive Vertriebene oder die Nachfahren von solchen. Sie stammen aus palästinensischen Siedlungen, die heute zerstört sind oder von Israeli bewohnt werden. Die Palästinenser betonen, dass sie ein Recht darauf haben, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Der Uno- Beschluss 194 vom 11. Dezember 1948 verbrieft ihnen dieses Recht auf Rückkehr. Israel lehnt ihn ab.
Offiziell „gewaltlos“, aber ...
Die jährlich von den Palästinensern durchgeführte Grossdemonstration soll nach Angaben der Organisatoren „gewaltfrei“ verlaufen. Demonstriert werden soll in unmittelbarer Nähe des Grenz- oder Todesstreifens. Die Propagandisten und Animatoren des Grossereignisses in Gaza scheuen sich nicht zu versprechen, dass „wir“ die Grenze überschreiten und in unsere Heimatorte zurückkehren werden: „Friedlich und mit entblösstem Oberkörper“ sagen manche.
Die Israeli haben klar gemacht, dass sie jeden Versuch, in die Todeszone einzudringen oder den Grenzzaun zu beschädigen, mit Gewalt verhindern werden. Falls es zu Versuchen kommen sollte, israelische Siedlungen in der Nähe der Grenze anzugreifen, so versichern die Israeli, wird die Armee sie mit allen notwendigen Mitteln verteidigen.
Um dies deutlich zu machen, hat der israelische Generalstabschef, Generalleutnant Gabi Eizenkot, in einem Zeitungsinterview erwähnt, dass die israelischen „Verteidigungskräfte“, wie die israelische Armee offiziell heisst, gegen hundert Scharfschützen mobilisiert hat, die an der Grenze eingesetzt werden. Israel hat auch die Transport-Unternehmen in Gaza davor gewarnt, Demonstranten mit Autobussen an die Grenze zu befördern.
Israel „auf die Probe stellen“
Die Israeli betrachten die geplante Dauer- und Grossdemonstration als eine Provokation. Über soziale Medien haben sie die Bewohner von Gaza davor gewarnt, an der Manifestation teilzunehmen. Sie wiesen auch darauf hin, dass Israel militärische Vorbereitungen getroffen habe, um Übergriffen „auf unsere Landesgrenzen“ zuvorzukommen.
Die Aktivisten und Propagandisten auf der Seite der Palästinenser erklären offen, ihre Massendemonstrationen seien so angelegt, dass sie die israelische Armee „auf die Probe stellen“ sollten. Es werde sich erweisen, ob die Armee wirklich gewillt sei, auf Tausende, wenn nicht Zehntausende „friedlicher Demonstranten“, unter ihnen ganze Familien mit Frauen, Kindern und alten Leuten, das Feuer zu eröffnen.
Eine Intiative von Hamas?
Nach israelischer Darstellung ist die „terroristische Hamas-Bewegung“ die Urheberin und Organisatorin der „Provokation“. Es trifft jedenfalls zu, dass Hamas das Vorhaben billigt und befürwortet. Offizieller Träger ist jedoch eine Kommission, in der Hamas zusammen mit vielen anderen Organisationen und Gruppierungen aus Gaza vertreten ist. Nach den israelischen Darstellungen soll Hamas auch Demonstrationen an anderen Grenzen Israels planen, etwa in Libanon und in Syrien. Selbst an der weitaus längsten Grenze, jener nach Jordanien, sowie im Westjordanland soll demonstriert werden.
Der politische Hintergrund spricht in der Tat dafür, dass Hamas die Massenkundgebungen massgeblich fördert oder sogar selbst ausgelöst hat. Die „Innenpolitik“ von Gaza war im vergangenen Jahr durch die Versöhnungsversuche zwischen Hamas und der PLO-Führung gekennzeichnet. Nach dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 war die PLO aus Gaza vertrieben worden. Hamas hatte 2007 die Macht im Gaza-Streifen übernommen. Viele Palästinenser hofften im vergangenen Jahr nun, dass sich Hamas und die PLO erneut vereinigen könnten.
Gescheiterte Versöhnung
Hamas hatte sich bereit erklärt, der PLO in Gaza die Regierungsverantwortung zu übertragen. Mit einer Zeremonie wurde die Machtübergabe besiegelt. Offiziell ist jetzt also der im Westjordanland eingesetzte PLO-Ministerpräsident auch für Gaza zuständig und verantwortlich.
Doch de facto scheiterten die Verhandlungen an der Frage der Bewaffnung der Hamas-Aktivisten. Hamas will nach wie vor eine eigene bewaffnete Truppe „für den Kampf gegen Israel“ kommandieren. Die PLO fordert jedoch die Eingliederung der Hamas-Kämpfer in die offiziellen palästinensischen Sicherheitskräfte. Die PLO sagt zu recht, sie könne nicht die Verantwortung für Gaza übernehmen, solange sie nicht auch die Kontrolle über die dortigen Bewaffneten ausüben kann.
Attentatsversuch auf den palästinensischen Ministerpräsidenten
Die Versöhnung der beiden Palästinenser-Organisationen scheiterte dann endgültig, als am 13. März in Gaza ein Mordanschlag auf den palästinensischen Ministerpräsidenten Rami Abdullah verübt wurde. Er hatte sich auf einem Besuch in Gaza befunden, als eine Bombe unter einem Auto seines Konvois explodierte.
Die PLO machte sofort Hamas für den Anschlag verantwortlich. Rami Abdullah blieb unverletzt; einige seiner Leibwächter wurden leicht verwundet. Hamas stritt die Verantwortung für den Anschlag ab und verhaftete mehrere Personen. Doch der Versöhnungsprozess lag in Scherben.
Ersatz für die fehlgeschlagene Wiedervereinigung
Ursprünglich war Hamas auf den Versöhnungsversuch eingegangen, weil die Organisation sich nicht mehr in der Lage sah, die sich ständig verschlechternde Situation der Bewohner von Gaza in den Griff zu bekommen. Nach dem Scheitern der Versöhnungsbemühungen benötigt nun Hamas ein neues politisches Thema. Die Rückkehr der Palästinenser ist eines der wenigen Themen, bei dem sich alle Bewohner von Gaza, die Anhänger der PLO und jene von Hamas, einig sind.
Durch die geplante Massen- und Dauer-Demonstration wird die israelische Armee vor eine schwierige Gratwanderung gestellt. Ihre Offiziere wissen, wenn die Grenze überschritten wird und die Demonstranten auf die israelischen Siedlungen zumarschieren, werden sie dafür verantwortlich gemacht. Doch ihnen ist auch klar, wenn es bei der Verteidigung der Grenze allzu viele Tote gibt, wird sich in Gaza die Wut auf Israel wieder entladen. Eine Eskalation könnte dann schliesslich einen weiteren Eingriff Israels in Gaza auslösen – so, wie 2008/9, 2012 und 2014. Ein vierter Gaza-Krieg aber würde wohl aus palästinensischer wie auch auf israelischer Seite Opfern fordern. Die Gesamtlage allerdings würde nicht verändert.
Bilanz des ersten Tages
Am Abend des ersten Demonstrationstages erklärte das palästinensische Gesundheitsministerium, die Zahl der toten Palästinenser sei auf zwölf gestiegen. 750 Demonstranten seien durch Schüsse oder Tränengas verwundet worden und befanden sich in Behandlung im Spital. Später veröffentliche das gleiche Gesundheitsministerium eine revidierte Statistik. Danach starben „mindestens“ 17 Menschen, 1’416 seien verwundet worden. Darunter befänden sich 758, die durch scharfe Munition verletzt worden seien, die übrigen durch Gummi-Geschosse (148), Tränengas (422) und andere Ursachen (88).
Die israelische Armee erklärte, etwa 17’000 Palästinenser demonstrierten an sechs verschiedenen Stellen an der Grenze. Die Zeitung „Haaretz“ schätzte die Zahl der Demonstranten auf 30’000. Brigadier Ronen Matalis wird mit der Aussage zitiert: „Scharfe Munition wurde nur gegen jene eingesetzt, die versuchten, die Grenzsperre zu beschädigen. Am Vormittag hatte Ismail Haniye, zurzeit der oberste Chef von Hamas, eine Ansprache an die Demonstranten gehalten. Darin sagte er: „Wir werden keinen Zentimeter von Gaza aufgeben.“ Und: „Es gibt keine Alternative zu Palästina, und keine Lösung ausser der Heimkehr!“