Es war gegen halb elf Uhr abends, als ein Mob von 1500 Mann das Haus des Sektenführers Tengku Aiyub Syahkuban, mit Macheten angriff. Aiyub, dem die Angreifer Häresie vorwarfen, sowie zwei seiner Anhänger starben. Zehn weitere wurden verletzt. Die Übrigen wurden zu ihrem Schutz in die Polizeistation von Bireuen (in Aceh auf Sumatra) gebracht.
Nur kurz zuvor war es in Lampung in Südsumatra und auf der Insel Lombok zu ähnlichen Auseinandersetzungen gekommen. Religiös motivierte Verfolgung, Behördenwillkür, Brandschatzungen und Morde gehören in Indonesien, der grössten muslimischen Nation der Welt, heute beinahe zum Alltag.
Staatlich geduldete Übergriffe und Morde
Erst Ende Oktober hatten Dutzende Mitglieder der radikalen Islamischen Verteidigungsfront (FPI) die An Nasir Moschee in Bandung angegriffen, wo sich Anhänger der muslimischen Ahmadiyah-Sekte auf Eid al-Adha, das Opferfest, vorbereiteten. Der Indonesische Ulamarat verurteilte die Tat zwar, zeigte aber Verständnis für die Täter: «Die staatlichen Autoritäten sollten den Mut aufbringen, (gegen Ahmadiyah) einzuschreiten, so dass es die Menschen nicht selbst tun müssen.»
Vor zwei Jahren schockierte ein Video auf YouTube kurzzeitig sogar die meist untätige indonesische Regierung. Der kurze Bericht zeigte einen Mob islamischer Schläger, die mit Baseballschlägern drei Ahmadis brutal zu Tode knüppelten. Angeklagt wurden später nicht die Täter, sondern jener Überlebende, der die Morde heimlich mit seinem Mobiltelephon aufgenommen und in YouTube gestellt hatte.
Ahmadiyah-Anhänger sind praktisch ständig auf der Flucht. Ihre Moscheen und Häuser werden abgebrannt und Sektenmitglieder aus ihren Dörfern vertrieben. Dabei ist Ahmadiyah die wohl friedlichste aller muslimischen Gruppierungen, die einzige, die über keinen militärischen oder militanten Flügel verfügt. Mirza Ghulam Ahmad, der 1889 in Indien die Sekte gründete, bezeichnete nicht Mohammed, sondern sich als den letzten Propheten, weshalb seine Religion in der islamischen Welt als Häresie verurteilt wird.
Ahmadiyah – eine Elite unter den Moslems
Der pakistanische Diktator Zia ul-Haq verfolgte sie jahrelang. Dabei sind sie dort die einzige muslimische Gruppe, die zu hundert Prozent alphabetisiert ist. Der pakistanische Physiker Abdus Salam, der in Cambridge, Princeton und Oxford lehrte und 1979 den Nobelpreis erhielt, war ein Ahmadi. Der ehemalige pakistanische Aussenminister und spätere Vorsitzende des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, Muhammad Zafarullah Khan, der deutsche Poet Hadayatullah Huebsch oder der österreichische Anthropologe und Orientalist Rolf Freiherr von Ehrenfels waren Ahmadis, ebenso die Jazzmusiker Yusuf Lateef, McCoy Tyner und Art Blakey oder der Schauspieler Mahershalalhasbaz Ali (CSI, Crossing Jordan). Die meisten Koranübersetzungen (in über 50 Sprachen) wurden von Ahmadis erarbeitet.
Angriffe und Schikanen gegen Schiiten und Christen
Doch nicht nur kleine Sekten, auch grosse Glaubensgemeinschaften wie Schiiten oder Christen sehen sich häufigen Angriffen ausgesetzt. Auf Kirchen werden Brand- und Bombenanschläge verübt, sie werden ohne Angabe von Gründen geschlossen, Baugenehmigungen für neue Kirchengebäude werden abgelehnt, Messen und Gottesdienste gestört oder verhindert. Seit zwölf Jahren zieht sich der Konflikt um den Neubau einer Kirche in Bekasi, einem drei Millionen Einwohner zählenden Industrievorort Jakartas, nun hin. Zunächst erhielt die protestantische Batak Filadelfia Kirche eine Baugenehmigung und kaufte Bauland. Doch als die Bauarbeiten beginnen sollten, demonstrierten Tausende Muslime gegen die Errichtung des Gotteshauses. Seither hält die Gemeinde ihre Gottesdienste auf einem kircheneigenen freien Feld ab. Aber auch dort werden sie beinahe jeden Sonntag angegriffen.
Ähnlich ergeht es den Christen in Bandung. Dort hatte die protestantische Batak-Kirche zunächst ebenfalls eine offizielle Baugenehmigung für ein neues Gotteshaus erhalten, scheiterte jedoch am Widerstand muslimischer Hooligans und dem Bürgermeister, der sogar die Entscheidung des Obersten Gerichts, die zugunsten der christlichen Bauträger ausgefallen war, ignorierte und an seinem Bauverbot festhielt. Als sich die Gläubigen ersatzweise in einer Wohnung zum Gottesdienst trafen, wurden sie wieder verjagt, weil es untersagt sei, Wohnräume als Gotteshäuser zu nutzen. «Wir predigen hier nur einmal die Woche und versuchen, so ruhig als möglich zu sein, um niemanden zu stören,» versprach Reverend Hutagalung vergebens.
Eine unvollständige Liste zählte im Jahr 2010 alleine in Westjava 39 Übergriffe auf Kirchengebäude und Kirchgänger, darunter zwölf offizielle Schliessungen von Kirchen und sieben abgebrannte Kirchengebäude. Die Befragung von 500 Religionslehrern ergab, dass drei Viertel von ihnen ihre Schüler dazu aufriefen, nicht-muslimische Lehrer zur Konversion zu drängen; 85 Prozent verboten ihren Schülern, westliche Feiertage wie Neujahr zu begehen, und zwei Drittel fühlten sich mehr als Muslime denn als Indonesier. Nur 15 der Lehrer sahen es als ihre Pflicht, ihre Schüler zu Toleranz zu erziehen.
Medien, Politiker und Behörden schauen weg
Die Medien vermieden weitgehend, über das Problem zu berichten, weil es sich um «ein emotionales und kontroverses Problem» handle, erklärte Endy Bayuni, der ehemalige Chefredakteur der christlich geführten Jakarta Post, in einem Interview. «Wenn du über religiöse Konflikte berichtest, riskierst du zudem, als parteiisch beschuldigt zu werden.»
Auch die Sicherheitskräfte halten sich meist raus aus religiösen Auseinandersetzungen. Als die FPI im Juni Lady Gaga als «Botschafterin des Teufels» verdammte und drohte, ihr Konzert in Jakarta mit «allen Mitteln» verhindern zu wollen, gab die Polizei nach und untersagte den Auftritt. «Da ist nichts heilig an Hass,» kommentierte die exzentrische Popsängerin.
Selbst die Regierung sieht oft nur tatenlos zu oder unterstützt die muslimischen Schlägerbanden sogar, so wie Indonesiens Religionsminister, der die Absage des Konzerts als einen Segen für das Land begrüsste. Von den Bildern auf YouTube, die zeigten, wie die drei Ahmadis im Beisein von untätigen Polizisten erschlagen wurden, zeigte sich Präsident Susilo Bambang Yudhoyono zwar schockiert, wies jedoch sofort darauf hin, dass die Ermordeten Häretiker gewesen seien. Nach den letzten Attacken auf die Batak Filadelfia Kirche brauchte der Präsident fünf Tage, ehe er anlässlich des Beginns des Fastenmonats Ramadan «religiöse Harmonie» beschwor.
Und als sich im August muslimische Organisationen, Buddhisten und Hindus Hunderten von Christen anschlossen, um vor dem Regierungspalast einen ökumenischen Gottesdienst abzuhalten und gegen die Untätigkeit der Regierung angesichts der zunehmenden extremistischen Umtriebe zu protestieren, untersagte die Regierung die Veranstaltung unter Hinweis auf die Vorbereitungen für den Unabhängigkeitstag am 17. August.
Staatlich geduldete Terrororganisation
Die USA und andere Staaten führen die FPI zwar als terroristische Organisation, in Indonesien ist sie jedoch bis heute legal. Ein Verbot der FPI lehnt die Regierung ab, die Mitglieder würden sich nur unter anderem Namen neu organisieren. Der stellvertretende Vorsitzende des Setara Institute for Peace and Democracy, Bonar Tigor Naipospos, hingegen sieht einen anderen Grund für die Zurückhaltung der Behörden: Die Lokal- und Regionalregierungen sähen in derartigen Gruppen «potenzielle Wähler», die man nicht vertreiben wolle.
Die Einhaltung der Gesetze hat nicht einmal für die Gesetzgeber Priorität. Als Mitglieder der schiitischen Minorität von der Insel Madura – sie waren in einem Flüchtlingslager untergebracht, nachdem sunnitische Glaubensbrüder ihre Häuser abgebrannt und zwei Schiiten erschlagen hatten – neulich im Parlament um Hilfe baten, wurden sie von den Volksvertretern mit Verachtung gestraft. Sie wollten nach Hause zurückkehren, weil «wir nicht wissen, wie lange wir dort (im Lager) noch überleben können,» klagte ihr religiöser Führer, Iklil Al Milal.
Die meisten Abgeordneten hörten gar nicht zu, sondern waren «mit einer Geldlieferung befasst», wie The Jakarta Post berichtete, andere «wickelten gerade persönliche Geschäfte ab.» Rukmini Buchori von der Demokratischen Partei des Kampfes forderte gar die «Kommission für vermisste Personen und Opfer von Gewalt» auf, den Schiiten zu «helfen», ihrem Glauben abzuschwören. «Ich weiss nicht genau, aber ich habe gehört, dass die Schiiten eine andere Art des Islam praktizieren,» plapperte die Abgeordnete ignorant. «Die Schiiten müssen lernen, sich den Normen anzupassen.»