Dass der Westen auf dem Weg ist, sein Beinahe-Monopol bei der Einflussnahme auf den globalen Süden zu verlieren – wir lesen es fast täglich. Aber wir lesen es nirgendwo so gut dokumentiert und so gründlich durchdacht wie im Buch «Wir sind nicht alle – Der globale Süden und die Ignoranz des Westens».
Die beiden Autoren Johannes Plagemann und Henrik Maihack schreiben auch aufgrund von eigener Erfahrung in zahlreichen Ländern des globalen Südens – und sie konstatieren nicht einfach einen Ist-Zustand, sondern skizzieren auch Alternativen.
Zunächst stellen sie fest: «Der Westen ist nicht mehr der Nabel der Welt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch unseren Blick auf den globalen Süden verändert. Es herrscht Verwunderung, dass die westliche Sanktionspolitik gegen Russland in Staaten wie Indien oder Südafrika nicht geteilt wird. Im Rahmen der sich abzeichnenden neuen Blockkonfrontation zwischen dem Westen und China ist dem globalen Süden zugleich eine neue strategische Bedeutung zugefallen. Doch wer dort Unterstützung sucht, muss dessen Motive und Interessen verstehen.»
Die dunklen Seiten des Westens
Die Autoren blicken, als europäische Beobachter mit Einfühlungsvermögen in andere Mentalitäten, aus konkreter Süd-Perspektive auf die globale Gegenwart. Und stellen viele Fragen, beispielsweise: Warum wird den Politikerinnen und Politikern in den traditionellen Industriestaaten nicht bewusst, dass sie mit der Finanzstrategie des Internationalen Währungsfonds soziale Verwerfungen in Ländern, beispielsweise, Südamerikas ausgelöst haben? Ja, könnte man dagegen argumentieren, das war nicht vermeidbar, sonst wären die Wirtschaftsgefüge ganzer Länder zusammengebrochen. Das mag so sein, aber für Millionen Menschen in Bolivien oder Chile sah alles anders aus – sie sackten in die Armut ab. Und ihre eigenen Regierungen waren nicht in der Lage, dieser Entwicklung zu begegnen. Was der Währungsfonds dann wieder kritisierte, ohne eigenes Rezept für eine Abfederung. Widersprüche im Handeln des Westens werden für Menschen im globalen Süden auch bei anderen Fallbeispielen eklatant, etwa Covid. Als die Pandemie ausbrach, sorgte der Westen bei der Entwicklung von Medikamenten und der Zuteilung vor allem für sich selbst. Und in der Klimakrise, so sieht das aus der Perspektive des globalen Südens aus, fordern die Industriestaaten weltweiten Verzicht auf Kohle und andere fossile Energieträger – sie selbst aber haben erst einmal für sich vorgesorgt, das heisst einen Entwicklungsstand erschaffen, auf dessen Messlatte es möglich erscheint, das Klima zu schonen und gleichzeitig den errungenen Wohlstand zu erhalten. Davor, so die Süd-Perspektive, haben die Industriemächte sich nicht gescheut, Bodenschätze in Afrika, Asien und Lateinamerika zu fördern, egal, dass das den Menschen an Ort und Stelle Schaden bringen würde.
«Wir sind nicht alle» ist kein Anklagebuch – die Autoren stellen sachlich fest, dass wir, die Westler, von einem anders gearteten kollektiven Gedächtnis geprägt sind als die Menschen im globalen Süden: «Während wir im Westen die Begründung der Vereinten Nationen (1945), des Internationalen Währungsfonds (1944) und der Weltbank (1944) als wesentliche Wegmarken der internationalen Ordnung sehen, ist im kollektiven Gedächtnis vieler Staaten des Globalen Südens ein anderes Ereignis Inspiration und Vorbild. 1955, ein Jahr nach dem Beginn des Algerienkriegs, in dem Frankreich mit aller Macht versuchte, seine algerische Kolonie zu erhalten, kamen in der indonesischen Stadt Bandung Vertretungen aus 29 zumeist postkolonialen Staaten zur ersten Asien-Afrika-Konferenz zusammen. Ein welthistorisches Ereignis, das im Westen damals wie heute in seiner globalen Bedeutung unterschätzt wird.»
Die neue Realität
Die Rückblende führt im Buch zwar nicht geradlinig (das wäre zu einfach, würde den Ansprüchen den Autoren nicht gerecht werden), sondern mit konkreten Beispiel belegt, in die Gegenwart, konkret: zur Frage, weshalb der globale Süden mehr und mehr Distanz zum Westen sucht.
Es sind mehrere Faktoren: Der Westen, dessen Regierende, werden in anderen Regionen immer mehr als arrogant und verlogen erkannt: «Ihr pocht auf die Einhaltung von Menschenrechten und die Beachtung der Uno-Charta, die Angriffskriege verbietet? Und lasst es zu, dass die USA (2003) willkürlich Irak attackierten … Ihr greift militärisch in Libyen (2011) ein, ohne Mandat der Uno?» Solche und viele weitere Fragen ergeben sich bei der Lektüre, und solche Fragen prägen darüber hinaus die generell reservierte Haltung im globalen Süden gegenüber dem heutigen Westen.
Zahlreiche Länder, die es vor noch wenigen Jahren nicht gewagt hätten, den Wünschen der USA zu widersprechen, haben sich in mehr oder weniger lockeren Institutionen zusammengeschlossen. BRICS ist die wichtigste Organisation, mit China, Indien, Russland, Brasilien und Südafrika als Mitglieder – und mit sechs demnächst beitretenden Ländern und ausserdem 14 weiteren Interessierten. Auch die Shanghai Cooperation (da sind, ausser China und Russland, die Länder Zentralasiens und Iran dabei) versucht, sich in der neuen Realität zu profilieren. Und in Lateinamerika gibt es Bestrebungen, ein eigenes Finanz-Netzwerk zu schaffen, das den Handel unabhängig vom US-Dollar ermöglichen soll.
Multilateralismus
Das ist das Wesentlichste: Institutionen gründen, die Unabhängigkeit von den USA, von deren Sanktions-Drohungen, vom Westen insgesamt, möglich machen.
Der Westen verliert an Einfluss. Wie kann er dem entgegenwirken? Wie kann er seine Ziele noch durchsetzen? Ist es realistisch, Ländern Afrikas gleichzeitig Entwicklungshilfe anzubieten und die Einhaltung demokratischer Prinzipien einzufordern? Die Autoren des Buchs schlagen Schwieriges vor: «Demokratisierung der internationalen Politik wird nicht ohne Mitsprache von Autokratien zu haben sein. Weil die grosse Mehrheit der Länder des Globalen Südens eben keine liberalen Demokratien sind, misstrauen ihre Bevölkerungen vielerorts den eigenen Regierungen. Das führt zu Verwirrung im Westen. Wer spricht mit welcher Legitimität für Länder des Globalen Südens?» Schlussfolgerung der Autoren: «Umso wichtiger, dass internationale Organisationen transparenter und nach geregelten Verfahren handeln.»
Es ist ein Appell für die Unterstützung des Multilateralismus, für Zusammenarbeit in internationalen Organisationen. Nur: Der Zeitgeist weist, leider, nicht in diese Richtung. Wo ist ein Wille zur Veränderung beispielsweise der ungerechten Machtstrukturen in der Uno (Sicherheitsrat mit fünf Veto-Mitgliedern, die alles Wesentliche bestimmen oder blockieren können) zu erkennen? Wo ein klarer Wunsch nach Veränderung der Strategie des IWF? Leider nirgendwo.
Aber vielleicht müssen grundlegend neue Denkansätze ja zuerst in Buchpublikationen formuliert werden. «Wir sind nicht alle» von Johannes Plagemann und Henrik Maihack bietet auf jeden Fall mengenweise Anregungen zum Nachdenken.
Johannes Plagemann, Henrik Maihack: Wir sind nicht alle – Der globale Süden und die Ignoranz des Westens. C.H. Beck Verlag, 257 Seiten