Noch in der vergangenen Woche führten wir zusammen ein anregendes Telefongespräch. In dieser Woche wollten wir mit ihm und seiner Frau Irene zu einer kleinen Tischrunde an seinem Aarauer Wohnort zusammensitzen. In der Nacht auf den Mittwoch ist Urs Bitterli während eines kurzen Spitalaufenthaltes im Krankenhaus Aarau unerwartet gestorben.
Literatur als eine Quelle der Geschichte
Der Historiker Urs Bitterli mit seinem weiten kosmopolitschen Blick und seinem profunden literarischen Interesse war im letzten Jahrzehnt seines langen Lebens ein treuer und produktiver Mitarbeiter von «Journal 21». In seiner eigens für ihn eingerichteten Rubrik «Alte Bücher – neu besprochen» hat er gegen hundert bedeutende, teilweise inzwischen halb vergessene Bücher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu vorgestellt und kenntnisreich in ihren historischen und gesellschaftlichen Kontext eingeordnet. 2016 sind 50 Besprechungen dieser Sammlung im NZZ-Verlag in Buchform erschienen. Es bietet dem interessierten Zeitgenossen eine Bildungserfahrung erster Güte. In der Einleitung schrieb Bitterli: «Wenn dieser Band dazu beiträgt, dass das eine oder andere der hier vorgestellten Werke wieder gelesen wird, habe ich mein Ziel erreicht.»
Wer sich über die geistigen Hintergründe und literarischen Zusammenhänge von Joseph Roths «Radetzkymarsch», Meinrad Inglins «Schweizerspiegel», Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes», Huxleys «Brave New World», Ortega y Gassets «Aufstand der Massen» oder Max Frischs «Tagebuch I» vertieft informieren oder zur eigenen Lektüre anregen will, findet in Bitterlis Kompendium gewichtige Anstösse und lehrreiche Hinweise. Bitterlis intensive Beschäftigung mit der Literatur war für ihn nicht nur eine belletristische Liebhaberei, er sah in den besprochenen Texten auch eine «Quelle der Geschichte», die dem Historiker wichtige Auskünfte und Stimmungsbilder zu bestimmten Zeitperioden vermitteln.
Bitterli hielt als Historiker stets Distanz zu der in seinem Fach eine Zeitlang grassierenden Mode, historische Erkenntnissuche überwiegend als soziologisch-statistische Disziplin zu betreiben, deren abstrakt-hermetischer Jargon für Nichtfachleute kaum zugänglich war. Sein Universitätskollege Peter von Matt, schreibt dazu in einer Festschrift zu Bitterlis 80. Geburtstag im Jahre 2015: «Du hast immer schon gewusst, was andere Historiker in jüngerer Zeit mühsam wieder lernen mussten, dass das Erzählen zu den grundlegenden Tätigkeiten aller Geisteswissenschaften gehört.» Denn es brauche das erzählende Wort, um «das nie fassbare Ganze» der unübersichtlichen Welt «wenigstens in Umrissen zu beschwören».
«Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’» als Longseller
Mit Blick auf Bitterlis Lebenswerk frappiere ihn auch, schreibt von Matt weiter, «wie Du den kommenden Trends immer einen Sprung voraus warst». Er bezieht sich dabei auf einen frühen Schwerpunkt von Bitterlis historischer Tätigkeit, die Kolonialismusforschung, die sich heute in der historischen Zunft grösster Aktualität erfreut. Zu diesem Themenbereich hat Urs Bitterli eine Reihe schwergewichtiger Bücher vorgelegt. Eines davon, «Die ‘Wilden’ und die ‘Zivilisierten’» (C. H. Beck Verlag, 1976) wurde über die Jahre hinweg zu einem Longseller, von dem allein in deutscher Sprache weit über 150’000 Exemplare verkauft wurden. Der Historiker untersucht darin die vielfältigen Kontakte zwischen den Kulturen und deren gegenseitige langfristige Beeinflussung. Er zeigt in diesem Buch auf, wie sich das europäische Selbstverständnis durch die Begegnung mit fremden Welten namentlich in Afrika und Amerika allmählich veränderte und im lange Zeit vorherrschenden Eurozentrismus einen Auflösungsprozess einleitete. Ein heute aktuelleres Thema denn je also, das der damals erst 40-jährige Historiker angepackt hatte.
Urs Bitterli ist 1935 im aargauischen Gränichen geboren und aufgewachsen. Er erwarb zuerst das Lehrerpatent und studierte dann in Zürich und Paris Geschichte sowie deutsche und französische Literatur. 1964 doktorierte er über Thomas Manns politische Schriften zum Nationalsozialismus 1918–1939. Er war Lehrer für Geschichte und Deutsch an der Alpinen Mittelschule Davos. Nach längeren Studienaufenthalten in London und Paris unterrichtete er an der Neuen Kantonsschule Aarau. 1970 habilitierte Bitterli sich an der Universität Zürich mit der Arbeit «Die Entdeckung des schwarzen Afrikaners». Ab 1978 war er ausserordentlicher Professor und ab 1995 ordentlicher Professor für Allgemeine Geschichte.
Biographien von Golo Mann und Rudolf von Salis
Nach seiner Emeritierung 2001 beschäftigte Urs Bitterli sich mit biographischen und editorischen Projekten. Er schrieb die erste grosse Biographie über Golo Mann, die in der späteren Nachkriegszeit wohl bekannteste und einflussreichste Instanz unter den Historikern Westdeutschlands. Der in Kilchberg lebende Sohn Thomas Manns war zweifellos ein bedeutendes Vorbild für Bitterli – zumindest was den Stil und die literarischen Einflüsse in seinen Publikationen betrifft. Golo Mann war ein grosser Erzähler mit familiär beeinflusster Begabung. Von früher Jugend an war er ein Bewunderer der Geschichtsschreibung Friedrich Schillers – und ein Verächter abstrakter historischer Theorien. Der amerikanisch-deutsche Historiker Fritz Stern, mit dem Bitterli kollegial verbunden war, hat dessen einfühlsame Lebensbeschreibung Golo Manns als «absolutes Meisterwerk» gelobt.
Einige Jahre später veröffentlichte Bitterli eine weitere Biographie: «Jean Rudolf von Salis, Historiker in bewegter Zeit». Zusammen mit seiner Frau Irene gab er zudem einen Band ausgewählter Briefe von Salis’ heraus. Seine verdienstvollste editorische Arbeit aber betrifft – wiederum in Zusammenarbeit mit seiner Frau Irene – die auf sieben Bände angelegte Werkausgabe des grossen schweizerischen Historikers und Essayisten Herbert Lüthy. Peter von Matt hat dieses Werk als «atemraubende Textsammlung» bezeichnet.
In den letzten Lebensjahren hatte Urs Bitterli mit einigen Altersgebresten zu kämpfen. Beim Gehen musste er sich auf einen Stock stützen. Aber er blieb bis zuletzt ein wacher Zeitgenosse und im Freundeskreis, zusammen mit seiner Gattin, ein warmherziger, wohlwollender und dankbarer Gesprächspartner. Der Literaturkritiker Manfred Papst, auch er ein guter Freund, hat Bitterli schon vor anderthalb Jahrzehnten mit dem alten Fontane verglichen, der sich in seinem Roman «Der Stechlin» gewissermassen selbst portraitiert hatte. Neugier und Gelassenheit verbinde sich auch bei Bitterli zu einer milden Ironie. Man erhoffe sich von ihm noch manches weitere Werk, schrieb Papst. Diese Hoffnung hat sich erfüllt.
Urs Bitterlis letzte Publikation, die Ende März im «Journal 21» erschienen ist, war eine ausführliche Besprechung eines Erinnerungsbuches des vor elf Jahren verstorbenen britischen Historikers Tony Judt. Die autobiographischen Essays in diesem Buch sind unter dem Titel «Das Chalet der Erinnerungen» zusammengefasst. Judt war in mancher Hinsicht ein Historiker ganz nach Bitterlis Geschmack: Ein glänzender Erzähler, undogmatisch, weltoffen und mit Empathie auch für Menschen mit anderen Ansichten.