Das Unerklärte schlägt uns in seinen Bann. Wir sind von Kindheit an besessen von Dingen, die unseren Verständnishorizont übersteigen, von phantastischen Helden, Dämonen, Ungeheuern, Sagenwesen, Ausserirdischen, vom Yeti, Nessie oder Sasquatsch, von Telepathie, Telekinese und anderen paranormalen Phänomenen.
Der Mensch ist das Tier, das die meiste Zeit mit Inexistentem zusammenlebt: mit Erhofftem, Befürchtetem, Eingebildetem, Unberechenbarem – wahrscheinlich mehr als mit Existentem. Es geht also weniger um Götter, Monster oder Aliens als vielmehr um diese kognitive Disposition, die man mit noch mehr Wissenschaft nicht beseitigt, sondern eher verstärkt. «Mehr Wissenschaft» ist der Slogan einer falsch verstandenen Aufklärung. Im Grunde sind wir nie aufgeklärt gewesen.
Die Aufklärung schafft auch den Unaufgeklärten
Die These bedarf einer näheren Erläuterung. Seit dem 18. Jahrhundert erhebt in Europa die Wissenschaft den Anspruch der Erklärungshoheit gegenüber der Religion. Man kann etwa in Diderots Enzyklopädie und Kants Philosophie die leuchtenden Wegmarken dieser wegweisenden erkenntnistheoretischen Disruption sehen. Damit verschwand aber das wissenschaftlich (noch) Unerklärte nicht einfach, sondern wurde in die Randzonen im Schatten der Aufklärung verdrängt. Verdrängtes lebt bekanntlich hartnäckig weiter.
Die Professionalisierung wissenschaftlichen Denkens fand meistens exklusiv an «elitären» Orten statt, an Universitäten und ihren Instituten. Diszipliniertes Erklären setzt eben eine Disziplin voraus, eine lange «Initiation» in ihre spezifischen Denk- und Versuchstechniken. Viele intelligente Nichtakademiker jedoch, die aus «nicht-institutionalisierter» Neugier unerklärliche Phänomenen erforschten, sahen sich aus dem Kreis der geschulten Erklärer ausgeschlossen, bestenfalls gnädig als Amateure oder Dilettanten akzeptiert. Dabei beherzigten sie durchaus Kants Motto «Wage zu wissen», aber sie wagten eben auch, auf ihre Weise zu wissen, und sie pfiffen auf die Kategorien Kants.
Wer definiert eigentlich Vernunft?
Die Aufklärung schuf also sozusagen kraft ihres abgrenzenden und ausschliessenden Projekts auch den Typus des Unaufgeklärten. Man muss in ihm – anders als es das Klischee will – nicht unbedingt einen rückständigen, sturen oder unbelehrbaren Geist sehen. Denn «Wage es, deinen eigenen Verstand zu gebrauchen» ist zweideutig. Es kann heissen «Denke wie die Wissenschaft», aber auch «Denke auf deine Art». Kann man einem Nessie-Forscher vorwerfen, er bediene sich nicht seines Verstandes, wenn er eine eigene wilde Erklärung des Kryptotiers anbietet? Man kann ihn höchstens dann kritisieren, wenn er gewisse Normen des wissenschaftlichen Diskurses missachtet. Das tun freilich disziplinierte Forscher oft selber auch. Konsensverletzung gehört zur Wissenschaft. Ohnehin gibt es den «reinen» Verstand oder die «reine» Vernunft nicht. Sie sind immer «verunreinigt» durch individuelle Eigentümlichkeiten. Die Frage lautet also: Wer definiert eigentlich verbindlich, was Verstand, Vernunft, Rationalität ist?
Die Wissenschaft liefert keinen Sinn
Hinzu kommt ein weiterer Punkt. Verstand ist das eine, Sinn das andere. Wildes Erklären ist unabtrennbar verbunden mit Sinnsuche. Und hier stossen wir auf ein tiefes Paradox der Moderne. Sie brüstet sich mit wissenschaftlicher Erklärungspotenz, aber sie kämpft mit einem Sinndefizit. Mit den Worten von Stephen Weinberg, einem der Koryphäen der Teilchenphysik: Je mehr wir vom Universum verstehen, desto sinnloser erscheint es uns.
Ich deute diesen Satz so: Wenn man einen Sinn des Universums innerhalb des disziplinierten Erklärungshorizontes der objektiven Wissenschaften sucht, findet man ihn nicht. Der Erkenntnisfortschritt erweiterte in den letzten drei Jahrhunderten den Kreis des Wissens in einem triumphalen Ausmass. Bekanntlich vergrössert sich aber mit dem Radius des Kreises auch sein Umfang, also die Grenzlinie zum Nichtwissen. Das Nichtwissen wächst. Und korrespondierend wächst unser Bedürfnis nach dem Zusammenhang all dessen, was wir wissen. Das erzeugt eine Spannung, die für nicht wenige Menschen kaum zu ertragen ist – selbst für Wissenschafter nicht.
Wir sind Glaubenwoller
Das Motto von Fox Mulder – dem FBI-Ermittler und Protagonisten der erfolgreichen TV-Serie «The X-Files» lautet «Ich will es glauben», sozusagen als Gegenposition zum «Ich will es wissen» seiner skeptischen Kollegin Dana Scully. Glaubenwollen ist nicht gleichzusetzen mit Glauben. Es hat sein Standbein durchaus auf dem Boden der Tatsachen. Glaubenwollen ist ambivalent. Ein Impuls, den wir nicht wegrationalisieren können – womöglich sogar ein Überlebensmittel in einer Welt der zunehmenden Undurchschaubarkeit und damit des Kohärenzverlusts. Glaubenwollen signalisiert die Einsicht in die Unabgeschlossenheit der Erkenntnissuche, und darin äussert sich vermutlich auch ein Bedürfnis nach dem Geheimnis und dem Rätsel. Wir können ein popkulturelles Symptom in der Massenproduktion von «Mystery»-Serien sehen oder auch in den wiederkehrenden Buchtiteln über die «Wiederverzauberung» der Welt in den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts.
Zuviel Sinnsuche führt zu Obskurantismus, Okkultismus, Esoterik
Wiederverzauberung der Welt ist allerdings nicht unproblematisch. Erstens lässt sich ein erreichtes Wissensniveau nicht einfach rückgängig machen durch «gewollte» Ignoranz. Und zweitens gleitet man leicht ab in Obskurantismus, Okkultismus, Esoterik oder Pseudowissenschaft. «Sinnsuche» kann auch «Zuviel-Sinnsuche» bedeuten. Sie geht dann über in Paranoia und Apophänie, also in das Wahrnehmen von trügerischen Phänomenen wie etwa Gesichtern auf der Marsoberfläche, geheimen Botschaften in den Medien oder Konspirationen. Die Technologie des Trugs hat im Zeitalter des Internets ein beispiellos raffiniertes «verzauberndes» Niveau erreicht, und die Hypothese ist nicht so abwegig, dass sie paranoiden Tendenzen sogar Vorschub leistet.
Sind wir aufklärungsresistent?
Die Wissenschaften mögen uns eines Besseren belehren, uns von tiefverwurzelten Überzeugungen abbringen, aber es wird ihnen nie völlig gelingen. Menschen sind und bleiben Glaubenwoller. Für viele ist nicht so wichtig, was sie glauben, sondern, dass sie glauben.
Sind wir also aufklärungsresistent? Das wäre eine übertriebene Behauptung. Eine riskante dazu. Leicht lässt sie sich nämlich zu einer Apologie des Spinners umbiegen, eines Typus, der unbeirrbar an das glaubt, was er behauptet. Er ist eine Version des Perpetuum-mobile-Verkäufers, der uns etwas anbietet, das ihm verlockend plausibel erscheint, aber aus physikalischer Perspektive unmöglich ist – weshalb er die ganze Physik zum Teufel wünscht. Für den Spinner sind, kurz gesagt, alle ausser ihm dogmatische Idioten.
Ein anderer Blick auf den Spinner
Wir haben es mit einer neuen Form der Dialektik der Aufklärung zu tun, die wir ernst nehmen sollten. Das heisst, Aufklärung bedeutet heute nicht einfach, die Welt diszipliniert wissenschaftlich zu erklären, sondern auch dem wilden Erklären mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Das Problem des Spinners ist nicht, dass er Falschheiten auftischt, sondern Halbwahrheiten. Er bringt es zur Meisterschaft, eine wilde Erklärung aus Fakt und Fiktion zu mischen, genau abgestimmt auf die Bedürfnisse und Begehren eines sich zunehmend von der disziplinierten Erklärung abwendenden Publikums.
Der Spinner springt also genau in das Sinnvakuum, das die Wissenschaft hinterlässt. Man muss ihn nicht zum tausendsten Mal widerlegen wollen, denn jede Widerlegung ist für ihn ein Beweis, dass er recht hat. Man muss ihn deswegen auch nicht gleich pathologisieren. Man muss sich den sozialen und kulturellen Bedingungen zuwenden, unter denen dieses intellektuelle Schattengewächs gedeiht. Und eine solche kritische Sicht nimmt auch die Wissenschaft und ihre Vernunft genauer ins Visier. Dafür müssen wir dem Spinner sogar dankbar sein.