Die Giacometti-Ausstellung im Zürcher Kunsthaus funktioniert als Augen-, Herz- und Seelenöffner. Lässt man sich auf sie ein und lässt man sich von ihr ergreifen, hat man sich ein bisschen verändert, wenn man nach einer oder besser zwei Stunden wieder draussen auf der Strasse steht, ist für eine Weile offener und gleichzeitig empfindlicher, nachdenklicher geworden. Diesen Effekt können Museumsbesuche haben – und viele, die Museen regelmässig aufsuchen, kennen ihn.
Intimität des Ateliers
Die Giacometti-Ausstellung mit dem akkuraten Titel (sie präsentiert das Material und lässt einen an dessen Vergeistigung teilhaben) vermeidet jegliches Spektakel. Gezeigt werden hauptsächlich die Gipsfiguren des Künstlers, die, ob sie nun später in Bronze gegossen wurden oder nicht, ein Eigenleben führen, einen Kunstakt per se darstellen und mit ihren bearbeiteten Oberflächen faszinieren.
Man wandert von Figur zu Figur, wechselt die Perspektiven, trifft auf Assemblagen, die die Intimität des Ateliers insinuieren: Man schaut und schaut und schaut und bekommt mit der Zeit den Eindruck, dass da zurückgeschaut werde aus den Augenhöhlen der Gipsköpfe.
Blicke hin und zurück
Das ist ja eine der Sensationen, die einem der Museumsbesuch im Allgemeinen vermitteln kann. Die ausgetauschten Blicke, Blicke des Besuchers auf Bilder oder Plastiken, Blicke in der anderen Richtung, von der ausgestellten Materie auf den Betrachter. Eine Illusion vielleicht, eine sehr produktive. Vor ein paar Jahren wurde ein Dokumentarfilm des 85-jährigen Frederick Wiseman gezeigt; er trägt den lapidaren Titel „National Gallery“ und erzählt drei Stunden lang, wie das genannte Londoner Museum lebt, wie es genutzt wird, was es bewirkt. Die Blicke, die von berühmten Porträts auf die sie Anschauenden geworfen werden, gehören in der Wisemanschen Umsetzung zu den Höhepunkten des Films.
Aber das Museum ist ja nicht nur ein Kunstparadies für die entsprechenden Liebhaber. Es ist auch eine subventionierte öffentliche Institution, als solche dem verpflichet, was man öffentliche Meinung nennt und ihren sichtbaren Vertretern, den Politikern.
Schaut man sich um in den in jüngster Zeit projektierten oder gebauten oder ergänzten Museen, hört man sich die dazu geäusserten Kommentare an, verfolgt man die entsprechenden Diskussion in den Medien, so wird man sich eines Trends gewahr, der mit den oben erwähnten Museumswirkungen wenig mehr zu tun hat, sie manchmal auch mit einer schon fast ideologisch anmutenden Vehemenz zu verdrängen sucht. Man kann das zum Teil gut verstehen. Die aktuelle postmoderne Kunst möchte zwar nach wie vor im Museum ausgestellt werden, verlangt indessen, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, nach flexiblen Präsentationen, die mit der herkömmlichen Ausstellungstechnik nicht zu schaffen sind.
Kunst ist Nebensache
Neue Museen oder Museumsanbauten kommen solchen Gegebenheiten und Wünschen entgegen. Das Gehri-Museum im Pariser Bois de Boulogne (von poetischen Journalisten als „Schiff mit geblähten Segeln“ charakterisiert), der Anbau des Whitney-Museums in New York (vom Architekten Renzo Piani als „reichhaltige Bouillabaisse“ bezeichnet) oder der Erweiterungsbau der Tate Modern in London, das sogenannte Switch House, vom Schweizer Architekten-Duo Herzog und de Meuron erbaut, sind selber so etwas wie vielbewunderte Kunstwerke geworden.
In dem medialen Spektakel, den sie verursachen, gerät die ausgestellte Kunst fast zur Nebensache. Politiker, Museumdirektoren, Kuratoren, Architektur- und manchmal sogar Kunstkritiker verkünden die neue frohe Museumsbotschaft: Kommt alle, hier geht es nicht mehr elitär zu, nicht andächtig, nicht still; Kunst anschauen kann man bei uns, muss man aber nicht, es gibt Kindergärten, Bastelräume, Bibliotheken, Kinos, Cafés, Bars, Restaurants, Boutiquen im Museum; kommt mit Handy und Laptop, telefoniert, arbeitet, trefft Freunde.
Selfies mit dem Rücken zum Kunstwerk
Eine „wir sind das Museum“-Bewegung wird imaginiert. Dem so elementaren Sehen im Museum entsteht mit dem Gesehenwerden ein ernsthafter Konkurrent. Wobei damit nicht das Zurückschauen der Bilder oder Figuren eines Künstlers gemeint ist, sondern das digitale Gesehenwerden des Betrachters, der mit dem Rücken zum Kunstwerk ein Selfie geschossen hat und das Resultat via Facebook mit seinen Likern teilt.
Zurück zu Giacometti. Er stammt aus einer anderen Zeit, er hatte Existentielles im Sinn, als er seine dünnen Figuren schuf. Das teilt sich auch dem mit, der nichts von ihm weiss, der zufällig in den Saal geraten ist und sich nun dem hundertfachen Blick dieser weissen Köpfe und Torsi aussetzt.
Unter dem Saal wird zur Zeit ein Tunnel gegraben, der auf die andere Seite des Heimplatzes in den geplanten Erweiterungsbau führt. Architekt David Chipperfield will ein richtiges Museum bauen. Eine Hülle, in der Kunstwerke anzutreffen sind. Zum Anschauen. Vielleicht. Einigermassen resigniert hat er kürzlich in einem Interview gesagt: „Heute sind Museen ein Teil der Unterhaltungsstruktur.“ Wehe dem Politiker, Museumsdirektor, Architekten, der dem nicht Rechnung trägt.