Das Bashing von Verschwörungstheorien ist ein Volkssport in Coronazeiten. Das überrascht kaum, wirft man doch in der Regel den Blick auf ihre dunklen Seiten: auf ihr Missverhältnis zu den Fakten, ihr simples Denkmuster, ihre Unwissenheit oder Halbbildung, die latente Paranoia des Theoretikers, auf den Schwund des Realitätsprinzips, auf den Rückfall in den Aberglauben. Historiker, Psychologen, Soziologen, Politologen, Medien- und Kulturwissenschafter nennen zahlreiche plausible Gründe für dieses Denken. Seine Massenwirksamkeit und Gefährlichkeit stehen ausser Zweifel. Aber meines Erachtens kommt ein Aspekt von Verschwörungstheorien zu kurz: ihre «Natürlichkeit». Viele Analysen diagnostizieren in Verschwörungstheorien – leicht hochnäsig – bloss ein intellektuelles Defizit. Aber sie machen sich die Sache – wie ich kurz zu erläutern versuche – etwas zu einfach.
Unsere kognitive Brille
Verschwörungstheorien sind die ersten Erklärungsversuche der Welt. Im mythischen Denken wimmelt es von Konspirationen der Götter und Dämonen. Heutige Verschwörungstheorien sind eine moderne Erscheinungsform des Mythos. Sie fragen wie «normale» Theorien: Warum geschieht das? Was steckt dahinter? Aber ein Vergleich mit «normalen» Theorien lässt zwei erklärende Grundhaltungen zur Welt erkennen. Wir tragen sozusagen eine kognitive Brille mit zwei völlig verschiedenen Gläsern. Durch das eine Glas sehen wir in allem Geschehen die Folgen von Absichten, durch das andere die Folgen von Ursachen. Man könnte vom intentionalen und kausalen Brillenglas sprechen. Beide bilden sie untrennbar unsere kognitive Brille. Und bei jedem Brillenträger unterscheiden sich die Sehstärken der Gläser auf individuelle Weise – sind sie auch individuell getrübt. Im Extremfall ist ein Glas blind. Und dann sehen wir nur noch monokular.
Das Unbehagen vor dem Zufall
Wir ertragen zufällige, unzusammenhängende Ereignisse schlecht. Deshalb wollen wir im Geschehen Muster erkennen, Erklärungen, Sinn, Absichten. Vor dem abstrakten Gekleckse eines Jackson Pollock stehend, fragen wir fast instinktiv: Was bedeutet das? Und womöglich wirkt hier tatsächlich eine Art kognitiver Instinkt, der das Gekleckse nicht Gekleckse sein lassen will. Genau so formulieren Wissenschafter Hypothesen und Theorien. Aber tut denn das nicht auch der Verschwörungstheoretiker? Gewiss, aber im Gegensatz zum Wissenschafter richtet sich seine Theorie nicht nach der Welt, sondern die Welt nach seiner Theorie. Für den Verschwörungstheoretiker sind alle Ereignisse oberflächliche Erscheinungen, sozusagen Pilze, die aus einem unterirdischen fabulösen Myzel schiessen. Das ist der Stoff, den die einschlägigen Okkult-Romane in unzähligen Varianten immer wieder rezyklieren.
Der Umgang mit dem Widerspruch und Bulverismus
Als höchst aufschlussreich erscheint dabei, wie mit einander widersprechenden Ansichten verfahren wird. Verschwörungstheorien führen Monologe, in denen auch Widersprüche ihren Platz finden. Ein Verschwörungstheoretiker kann behaupten, dass Lady Di vom britischen Geheimdienst ermordet wurde und dass sie auf einer kleinen Insel im Pazifik haust. Deshalb nützt ein Appell an die Logik nicht. Die Logik lehrt uns: ex falso quodlibet – aus einer Kontradiktion folgt alles Beliebige. Verschwörungsköche benützen dieses simple Rezept, um ihren mehr oder weniger giftigen Sud «logisch» zu brauen.
Verschwörungstheorien liefern überdies ein probates Mittel im Umgang mit Gegnern. Im Englischen spricht man von «Bulverism». Er stammt vom Schriftsteller Clive S. Lewis, genauer von dessen fiktiver Figur Ezekiel Bulver, der hörte, wie seine Mutter die Beweisführung seines Vaters, die Summe zweier Seiten eines Dreiecks sei grösser als die dritte Seite, mit den Worten abschmetterte: Du sagst das nur, weil du ein Mann bist. Verschwörungstheorien sind voller Bulverismen. Man geht gar nicht auf Argumente ein, sondern stracks auf den Argumentierenden. Wer die Verschwörungserzählung in Frage stellt, gehört selbst zur Verschwörung.
Dialektik des wissenschaftlichen Fortschritts
Auf vielen Gebieten haben wir die Sehstärke des kausalen Brillenglases verbessert. Wissenschaftlicher Fortschritt nennt sich das. Er hat in Physik, Chemie und Biologie alte intentionale Erklärungsmuster verdrängt. An die Stelle zorniger Wettergötter treten Gesetze der Atmosphärenphysik; an die Stelle alchimistischer Mächte chemische Reaktionen; an die Stelle eines göttlichen Designs zufallsbedingte Entwicklung der Arten. Aber noch in der Medizin stösst diese Naturalisierung auf Widerstand. Es gibt Leute, welche die Beschwörung von Naturgeistern Medikamenten vorziehen, einen Talisman gegen Krankheiten tragen oder sich mit Beten vor Viren schützen. Wer hier bloss Irrationalismus diagnostiziert, verkennt eine heimliche Dialektik des Fortschritts. Je mehr wir über die Welt wissen, desto schwieriger ist das kausale Muster anzuwenden. Wir greifen dann vermehrt zum intentionalen Monokel. Anstelle verwickelter Verschränkungen von Ökonomie und Ökologie sehen wir Umweltübeltäter; anstelle veränderter demographischer Bedingungen sehen wir Betrüger als Ursache eines Wahlresultats; anstelle des eigenen ungesunden Essverhaltens sehen wir «Vergifter» in Agrikultur und Nahrungsmittelindustrie. Das Motto dieser Einäugigkeit: Erkläre nicht durch Ursache und Wirkung, was du genau so gut durch Absichten und Motive – meist böse – erklären kannst.
Es gibt – verschweigen wir es nicht – auch die kausale Einäugigkeit. Wir finden sie allenthalben in der wissenschaftlichen «Entzauberung» von einstmals intentional erklärten Phänomenen. Sie greift nun von den Naturwissenschaften über auf menschliche Phänomene. So sehen zum Beispiel gewisse Neurowissenschafter unser ganzes geistiges, intentionales Leben als Folge geistloser, nicht-intentionaler Gehirnvorgänge. Das Motto dieses Reduktionismus lautet sozusagen spiegelverkehrt: Erkläre menschliches Handeln nicht durch Intentionen, wenn du es genau so gut durch Hormone erklären kannst.
«Epistemisches Chaos» und neo-mythisches Zeitalter
Verschwörungstheorien und Verhirnungstheorien sind deshalb heimliche Verwandte. Sie manifestieren einen oft obsessiven Hang zum Monokel: Wir werden von Drahtziehern determiniert; oder wir werden von Naturprozessen determiniert. Dieser Hang kommt – mehr oder weniger ausgeprägt – in uns allen vor, und wahrscheinlich wirkt er stärker in Zeiten der Verunsicherung, in einer erkennistheoretischen Krise. «Epistemisches Chaos» nennt sie die bekannte Ökonomin Shoshana Zuboff. Ohne Zweifel hat uns die Pandemie in ein solches geworfen. Wir merken plötzlich, wie wenig die Wissenschaft über die Welt der Mikroben, zumal über Vakzine, weiss; wie ungewiss und widersprüchlich die Aussagen von Fachleuten sind. Das schwächt unser Vertrauen in die Sehstärke des wissenschaftlichen Brillenglases. Stattdessen basteln viele nun ihre eigenen, meist intentionalen Erklärungen. Die Verschwörungserzählungen mögen kommen und gehen, der Reiz bleibt, in allem, was geschieht, Absichten – gute oder böse – zu sehen. Die wissenschaftliche Rationalität hat den Mythos nicht abgeschafft. Im Gegenteil. Wir leben nun in einem neo-mythischen Zeitalter.
Abschied von Alleinerklärungen
Das ist kein wissenschafts-defätistischer Bescheid. Er mahnt uns nur an: Wir können die kognitive Brille nicht abnehmen, aber wir können intentionale und kausale Einäugigkeit vermeiden. Das verlangt erhebliche intellektuelle Anstrengung, und zwar in dreierlei Richtungen: erstens einer Verbesserung und Vertiefung unseres kausalen Verständnisses der Welt; zweitens eines verfeinerten Unterscheidungsvermögens zwischen den Sehstärken des intentionalen und des kausalen Brillenglases – was auf ein neues Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften hinausläuft –; und drittens des Einübens einer erkenntnistheoretischen Demut, die sich eingesteht, dass wir das Weltgeschehen nicht auf «letzte» Akteure oder «letzte» Ursachen zurückführen können. Ihr Credo: Ungewissheit ist eine Erkenntnistugend. Verschwörungstheorien – auch Verhirnungstheorien – sind Alleinerklärungsmythen, und so gesehen durchaus Symptom eines Defizits: des Mangels an erkenntnistheoretischer Reife.