Reinheit, so schrieb die britische Anthropologin Mary Douglas in ihrer Studie „Reinheit und Gefährdung“, ist primär keine Kategorie der Hygiene, sondern des kulturellen Schutzes. Mit Unreinheit und Schmutz verbindet schon der Primitive das, was eine Ordnung gefährdet oder was nicht eindeutig ist. Schmutz ist relativ. Sauce an den Spaghetti ist in Ordnung, auf meinem Hemd fehl am Platz. Reinheit, so könnte man allgemeiner sagen, drückt eine Ausgrenzung dessen aus, was in meinem Weltbild keinen Platz hat – und es deshalb besudelt.
Wie wir wissen, kann dieses Besudelnde auch ein Mensch sein: Jude, Türke, Migrant, Schwuler, Arbeitsloser, Frau. Und wie wir weiter wissen, kann die oder der Ausgegrenzte in extremis nicht nur fehl am Platz, sondern nichts wert sein. Hier wird die Lage ernst. Wir sind von einem Reinheits- und korrelativ dazu von einem Putzgedanken infiziert, der uns überall befallen kann, in Armenien, Ausschwitz, Kambodscha, Ruanda, Bosnien.
Der Identitäts-Purist
Es ist eine geradezu schreiende Paradoxie der Globalisierung, dass sie Menschen nicht verbindet und vereint, sondern trennt und abgrenzt. Sie führt zu einer Welt in Stücken. Und in ihr tritt neuerdings mit Aplomb der Typus des Identitäts-Puristen auf. Wir kennen ihn in Europa aus Bewegungen, die eine offensive Politik der Identität betreiben: Hier „Wir“ und dort „Ihr“. Im Kopf dieses Puristen geistert die Idee eines „homogenen“ Volkes herum, das schicksalsbestimmt und heroisch seinen eigenen Weg in der Geschichte suchen muss. Man hört solche Volksbeschwörung vor allem von Wortführern der Neuen Rechten, in Deutschland etwa von Götz Kubitschek. Er schwadroniert vom „geheimen Deutschland“, das kraft Pegida und AfD nun auf die politische Bühne trete und endlich wieder den Ruf der Geschichte vernehme. Das tönt dann auf Veranstaltungen etwa so: „Unser Volk hat von anderen Völkern viel gelernt und anderen Völkern viel beigebracht, sein Erfindergeist, sein Organisationstalent, sein Fleiss sind sprichwörtlich, seine Musik und seine Philosophie sind einzigartig (...) Warum zähle ich das auf? Ich zähle es auf, weil wir alle hier diejenigen sind, die diese deutsche Geschichte weitertragen müssen und weitertragen dürfen.“
Herden-Identität
Nun ist gegen eine derartige Erzählung a priori nichts einzuwenden, obwohl man bezweifeln darf, dass Pegida oder AfD je vergleichbare Geistesgrössen hervorbringen wird wie diejenigen, an die Kubitscheks verpeiltes Pathos erinnert. Rückbesinnung auf die eigene Geschichte schadet nicht, wenn sie in kritischem Geist durchgeführt wird. Aber hier wird Geschichte für etwas anderes missbraucht, für das Zimmern einer „reinen“ Identität, als Keule gegen „den“ Anderen.
Und diese Identität ist primär eine Herden-Identität. Das Kollektivsubjekt „Wir“ tritt an die Stelle des Individualsubjekts „Ich“. Für nicht wenige Neurechte ist „das“ Individuum ein „liberales“ Gespenst, blut- und bodenlos, geschichts- und traditionsvergessen. Der journalistische Preisboxer Armin Mohler verhöhnte es. Und der Rhapsode abendländischen Untergangs Oswald Spengler beschrieb Geschichte als „Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der grossen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen wollen.“ – Der Daseinskampf als „grosse Tatsache“. Die hydrodynamischen Metaphern, mit denen diese schwülstige und kampfesbrünstige Geschichtsmetaphysik spielt, sprechen eine deutliche Sprache (heute spricht man gerne von der Flüchtlingsflut, von der Überschwemmung): In ihr hat sich das Individualmenschliche aufgelöst, ist „liquidiert“ worden.
Eine biblische Idee?
Man führt die Idee national-kultureller Homogenität üblicherweise auf die Romantik als dem Kindbett des Nationalismus zurück. Johann Gottlieb Fichte spricht in seinen „Reden an die deutsche Nation“ Klartext: „Ein (reines Volk mit einer reinen Sprache) kann kein Volk andrer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen.“ Der englische Religionshistoriker Adrian Hastings hat allerdings biblische Wurzeln geortet: „Die Bibel stellte in Israel selbst ein entwickeltes Modell dessen vor, was es heisst, eine Nation zu sein – eine Einheit aus Volk, Sprache, Religion, Land und Regierung.“ Alle christlichen Nationen, so Hastings, orientieren sich in irgendeiner Form am biblischen Israel. Und in der Sicht dieses Modells werden fremde Einflüsse in der Sprache und Kultur traditionell als gefährlich aufgefasst. Mehr noch: Sprachmischung, Kulturmischung und Rassenmischung sind prinzipiell eine Herausforderung der Vorsehung Gottes. Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts finden wir beim deutschen Orientalisten und Antisemiten Paul de Lagarde diese religiös verbrämte Idee der nationalen Reinheit mit der Ausmerzung des Fremden verbunden: „Es ist zweifellos nicht statthaft, dass in irgendeiner Nation eine andere Nation bestehe: es ist zweifellos geboten, diejenigen, welche (...) von jeher die Dekomposition befördert haben, zu beseitigen ...“ Zweifellos errät man, wer die „Beförderer der Dekomposition“ sind.
Mixophobie
Wir leben heute, nach der guten alten monolithischen Situation des kalten Krieges, in einer viel „dekomponierteren“ – man ist versucht zu sagen: unreineren – Lage. Und wohl gerade deshalb wachsen Sehnsüchte nach „reinen“ Nationen, nach klar abgegrenzten Gruppierungen, nach purifizierten Zugehörigkeiten. Und gegen eine unaufhaltsame globale Durchmischung der Menschen sehen nicht wenige das Rezept logischerweise in der „Entmischung“.
Der Identitäts-Purist hasst Durchmischung. Er ist mixophob. Er will unter „seinesgleichen“ bleiben. Wir beobachten diese Mixophobie ausgerechnet in einer Epoche des Multikulturalismus, wo sich die Menschen unterschiedlichster Kulturen wie selten zuvor global durchmischen und in den Metropolen oft auf engstem Raum nebeneinander leben. Deshalb muss sich der Identitäts-Purist Papp-Feinde zurechtschneiden, „den“ Islam, „die“ Liberalen“, „den“ Westen mit seinen universalistischen Tendenzen, „die“ konsumistische Dekadenz. Undsoweiter.
Man kann das agressive Gebaren neurechter Bewegungen mit ihren ewiggestrigen Beschwörungsformeln der Zugehörigkeit, Angestammtheit, Einwurzelung durchaus als Indiz dafür sehen, dass sie im Grunde auf verlorenem Posten stehen. Der Boden, auf dem sie ihre Imperien der reinen Identität errichten wollen, ist ihnen längst abhanden gekommen. Sie hängen in der Luft. Das macht sie nicht ungefährlicher, im Gegenteil. Nun regieren Verschwörungstheorie, Geschichtsklitterung, Propaganda – mit einem Wort: der Wahn. Und der Wahn kann, wie wir wissen, Wirklichkeit werden. Man muss nur die bürgerliche Mitte damit infizieren.
Das Bedürfnis nach Orten
Hüten wir uns freilich vor Pathologisierung. Der Wunsch hinter der reinen Identität ist ernstzunehmen. Der Mensch ist ein lokales Wesen. Er braucht seinen Ort, seine Orte, geographisch wie kulturell oder ethnisch. Mensch sein heisst immer auch, einen Ort haben, wo er haften bleibt, vielleicht Wurzeln treibt. Orte stiften Identität. Das kann und sollte völlig unideologisch aufgefasst werden. Denn Orthaftigkeit ist nicht an besondere Kulturen, Ethnien, Traditionen, Nationen, Herkünfte gebunden. Orthaftigkeit drückt die Bindung des Menschen an ein Stück Erde, an eine Kultur, einen Brauch, eine Sprache, eine Gruppe von Menschen aus, wo er „hier lebe ich gern“ sagen kann.
Es gibt ein Wort im Deutschen, welches diese Orthaftigkeit schön ausdrückt: hiesig. Man ist „hiesig“, wenn man von hier ist. „Hiesig“ kann aber auch interpretiert werden: Man ist hiesig, wenn man etwas vom „Hier“ des Ortes in sich aufnimmt; wenn man durch sein Verhalten zum „Hier“ beiträgt. So gesehen, hat Hiesigkeit wenig mit Ortsansässigkeit oder -verwurzelung zu tun. Hiesig werden kann auch der Fremde, der Zugezogene. Hiesig werden kann man allerorten. Damit keine Unklarheit aufkomme: „Hiesigkeit“ ist keine unverdächtige Kategorie, gerade in unserem Land, wo sie gerne zur Fortifikation des Denkens verwendet wird. Dennoch könnte sie uns auf eine entideologisierte Weise ein Grundbedürfnis nahebringen, das wir im Eigenen und im Fremden wahrnehmen und respektieren.
Hybride Identitäten
Wir sind im Grunde alle Mischlinge. Unsere Identitäten sind hybrid, unrein. Wie der britisch-ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah schreibt, ist Identität modular: immer schon zusammengesetzt und immer wieder zusammensetzbar. Eine kosmopolitische Haltung sei viel natürlicher als dies Kulturrelativisten annehmen. Und zwar primär deshalb, weil wir immer schon kulturell „verunreinigt“ sind. „Um eine Heimat zu haben, bedarf es und bedurfte es noch nie einer festgefügten Gemeinschaft und eines homogenen Wertesystems. Kulturelle Reinheit ist ein Widerspruch in sich. Das Seltsame ist, wir alle leben, kulturell gesehen, bereits jetzt ein kosmopolitisches, durch Bücher, Kunstwerke und Filme aus anderen Weltregionen bereichertes Leben, in das zahlreiche Einflüsse unterschiedlichster Art eingehen.“
Die Geburt der Gewalt aus dem Geist der Reinheit
Gäbe es eine schwarze Liste zivilisationsgefährdender Ideen, dann gehörte zuoberst die Idee der Reinheit gesetzt. Sie vergiftet das Denken, auf religiösem und auf säkularem Terrain, über Generationen hinweg. Im Zeichen der Reinheit geschehen die unsäglichsten Greuel. Hunderttausende von Frauen wurden im Mittelalter umgebracht, weil sie im mönchisch-männlichen Reinheitsraster keinen Platz fanden. Die Religionskriege entzündeten sich nicht zuletzt an Luthers Mission, den römisch-kurialen „Saustall“ zu reinigen. Spätestens seit Robespierre und der moralisch sauberen Klinge der Guillotine wissen wir, dass die reine Tugend, sobald sie an der Macht ist, in reinen Terror ausartet. Joseph Goebbels sah sich noch im Führerbunker 1945 „rein und makellos“ dastehen. Der auf Paranoia spezialisierte Psychiater Dr. Radovan Karadciz träumte von einem ethnisch reinen Gross-Serbien. Und der islamistische Selbstmörder lauert als reinste Tugendbombe in Untermiete.
Es ist, genauer betrachtet, nicht der Gedanke der Reinheit, der ins Visier genommen werden muss. Es ist seine latente Anstiftung zur Agression in seiner ordnungsbewahrenden Funktion – die Geburt der Gewalt aus dem Geiste der Reinheit. Ich nenne das agressiven Purismus. Er ist das Herz der fundamentalistischen Finsternis. Wenn uns der agressive Purist etwas lehren kann, dann dies: Im Rücken der Reinheit lauert die Vernichtung, quer durch alle Kulturen, Religionen, Epochen.