Statt immer nur das BIP zu steigern, sollten wir alle produktiven Tätigkeiten so organisieren, dass sie echten Nutzen bringen. Der Wirtschaftsjournalist Werner Vontobel wirbt für eine neue Perspektive des Wirtschaftens: Weniger Markt und Globalisierung, mehr nachbarschaftliche Zusammenarbeit. Im ersten Teil meiner Argumentation haben wir gesehen, dass die traditionelle, auf den Markt beschränkte Ökonomik den grössten Teil unserer produktiven Tätigkeiten ausser Acht lässt. Dies ist deshalb ein Fehler, weil die unbezahlte Arbeit einiges viel besser kann als der Markt.
Daraus haben wir den Schluss gezogen, dass eine umfassenden Ökonomik primär die nach der optimalen Aufteilung von marktgesteuerten und nicht marktgesteuerten Tätigkeiten stellen muss. Dieser Frage wollen wir uns nun zuwenden.
Arbeit soll Freude machen
Um produktiv tätig zu werden, müssen wir zunächst die (privaten und kollektiven) Bedürfnisse erkennen, zweitens müssen wir die Tätigkeiten aufeinander abstimmen und drittens schliesslich muss die Beute (das Produkt der Arbeit) verteilt werden. Dafür stehen den Menschen grundsätzlich zwei Koordinationsmechismen zu Verfügung, von denen die «moderne» Ökonomik bisher nur einem Beachtung geschenkt hat – dem Markt. Dieser ist aber erst rund 10'000 Jahre alt und hat den ursprünglichen, in 200 Millionen Jahren gereiften ursprünglichen Koordinationsmechanismus nie ganz abgelöst. Dieser – nennen wir ihn Bedarfswirtschaft – koordiniert auch heute noch weit über die Hälfte unserer produktiven und reproduktiven Bemühungen.
Nach welchen Regeln und Gepflogenheiten die Bedarfswirtschaft tickt, ist von Land zu Land, von Stamm zu Stamm sehr unterschiedlich. Aber es gibt viele Gemeinsamkeiten, die von Ethnologen, Evolutionsforschern, von der experimentellen Ökonomik usw. gut erforscht worden sind. Zwei Merkmale seinen hier hervorgehoben. Da ist einmal ein ausgeprägter Hang zur Solidarität, bis hin zur Bereitschaft, Trittbrettfahrer auch auf eigene Kosten zu bestrafen.
Zweitens wird die Arbeit so organisiert, dass sie Spass oder Freude macht und insbesondere die sozialen Bedürfnisse befriedigt. Oder andersherum gesagt: Das Lustzentrum in unserem Gehirn ist so programmiert, dass auch die Arbeit an sich Spass macht, nicht bloss der Verzehr der Beute. Das ist überlebenswichtig: Wir müssen uns auf die nächste Jagd auch dann freuen, wenn die letzte erfolglos war.
Schauen wir uns nun mal an, wie die beiden Koordinationsmechanismen in den drei ökonomischen Hauptdisziplinen abschneiden.
Vorteile der Marktwirtschaft
Erstens: Erkennen der Bedürfnisse. Hier hat die Bedarfswirtschaft einen grossen, zweifachen Vorteil. Zum einen organisiert sie die Arbeit – wie erwähnt – so, dass sie Spass macht, so dass insbesondere das Bedürfnis nach sozialem Einbezug befriedigt wird. Zum andern reagiert die Bedarfswirtschaft direkt auf die eigenen Bedürfnisse, bzw. auf die der Gemeinschaft.
Das ist beim Markt nicht der Fall. Hier werden wir tätig, um die Bedürfnisse von Fremden zu befriedigen – sofern diese vorab mit genügend Kaufkraft ausgestattet worden sind. Das ist schon mal ziemlich komplex und kann im Extremfall dazu führen, dass der Markt vor lauter Nachfrage die Bedürfnisse ganz aus den Augen verliert. Kommt dazu, dass die Marktwirtschaft mit sozialem Einbezug wenig am Hut hat. Im Gegenteil: Sie frustriert das Bedürfnis nach sozialer Einbindung, indem sie die Drohung mit dem Ausschluss aus der Produktionsgemeinschaft zur Steigerung der Effizienz nützt. Wer entlassen werden kann, arbeitet härter. Punkto Erkennen der Bedürfnisse hat die Bedarfswirtschaft also die Nase vorn.
In der zweiten Disziplin, der Produktion, bzw. Koordination der produktiven Tätigkeiten, spielt der Markt seine grossen Vorteile aus. Weil wir hier nicht nur für wenige Bekannte, sondern für viele Unbekannte tätig werden, können wir uns spezialisieren. Wir können die Vorteile der Massenproduktion nutzen. Der Austausch von Wissen findet in einem ungleich grösseren Rahmen statt. Wir können uns aus der Enge der Familien und Sippen befreien. Das gilt vor allem für die Frauen. Der Markt hat der Menschheit nicht nur materiell, sondern auch geistig einen Quantensprung ermöglicht. Das wollen wir nie mehr missen. Dieser Punkt geht ganz klar an den Markt.
Bedarfswirtschat braucht keine Finanz- und Werbeindustrie
In der dritten Disziplin, der Verteilung, liegen die Vorteile wiederum klar bei der Bedarfswirtschaft. Sie verteilt die Beute nach Bedarf, bzw. so, dass alle fit, fröhlich und leistungsfähig und -willig bleiben. Alles andere würde das Überleben auf Dauer gefährden. In der Marktwirtschaft hingegen werden die Geldeinkommen extrem ungleich verteilt. Selbst in der relativ egalitären Schweiz entfallen 50 Prozent der Markteinkommen auf das reichste, aber nicht einmal 2,5 Prozent auf das ärmste Fünftel der Steuerzahler.
Aus evolutionärer Sicht ist das ein grober Fehler, der mit einer teuren Umverteilungsbürokratie ausgebügelt werden muss. Doch das ist noch längst nicht alles: Anders als die Bedarfswirtschaft braucht der Markt eine Arbeitsmarktbürokratie, eine Finanzindustrie, die in der Schweiz 16 Prozent des BIP verschlingt. Da er die Bedürfnisse (der Fremden), die er befriedigt, erst wecken muss, bracht er eine Werbeindustrie und immer mehr Transportleistungen. Kurz: Ein wachsender Teil dessen, was wir zum Bruttosozialprodukt addieren, dient bloss dazu, die vom Markt geschaffene Komplexität zu überwinden.
Das heisst nicht, dass wir den Markt abschaffen sollten. Aber es legt den Schluss nahe, dass wir besser leben könnten, wenn wir unsere produktiven Tätigkeiten wieder vermehrt in die Bedarfswirtschaft zurückverlagern und dem Markt nur das überlassen, was er wirklich besser kann. Zur Bedarfswirtschaft gehören alle Gemeinschaften, die für die eigenen Bedürfnisse tätig werden: Das waren einst vor allem die Familien, Sippen und Nachbarschaften. In diesem geldlosen Teil der Bedarfswirtschaft wird auch heute noch weit über die Hälfte der Arbeit geleistet. Die Kommunen und Länder bilden die erweiterte Bedarfswirtschaft. Auch sie reagieren direkt auf die (kollektiven) Bedürfnisse ihrer Bürger.
Alle Teile der Bedarfswirtschaft sind in den letzten Jahrzehnten in die Defensive gedrängt worden. Die Familien und Nachbarschaften leiden vor allem unter den Mobilitäts- und Flexibilitätserfordernissen der Konkurrenzwirtschaft. Die Konkurrenz zwingt die Unternehmen dazu, den Faktor Arbeit immer nur dort und nur dann einzusetzen, wo und wann er den höchsten monetären Nutzen bringt. Das erfordert flexible Arbeitszeiten, lange Arbeitswege, häufiger Stellenwechsel. Damit aber werden die Produktionsstätten der geldlosen Bedarfswirtschaft – die Familien und Nachbarschaften – geschwächt oder gar zerstört. Es würde schon helfen, wenn das Arbeitslosengeld nicht mehr an lange Arbeitswege geknüpft wird.
Globalisierung – der grösste Feind der Kommunen
Der grösste Feind der Staaten und Kommunen ist die Globalisierung. Viele Regionen haben im Zuge des globalen Standortwettbewerbs die Fähigkeit verloren, sich so zu organisieren, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und decken können. Zwar liegt dort die Arbeit gleichsam auf den (löchrigen) Strassen und schreit aus hungrigen Mündern. Aber die dortigen Arbeitsämter vermitteln die jungen mobilen Leute in andere Regionen, wo zumindest die dringendste Arbeit schon gemacht ist. Und der Wirtschaftsminister bemüht sich mit Investitionszuschüssen um die Ansiedlung eines Verteilzentrums von – sagen wir – Zalando, auf dass mies bezahlte Kuriere hippigen Fremden die fünfzigste Jeans ins Haus liefern können. Doch statt von den Zalando-Angestellten die Steuern eintreiben zu können, die zur Finanzierung der Infrastruktur und der Schulen nötig wären, muss ihnen der Staat noch die mageren Löhne aufstocken. Das ist ein jämmerliches Ergebnis.
Mit einer Politik, die vor allem auf die Stärkung der Bedarfswirtschaft abzielt, kann man es besser machen. Die Instrumente dazu sind einerseits – wie erwähnt – das Arbeitsrecht wie etwa eine Verkürzung der Arbeitszeiten. Wie produktiv die Bedarfswirtschaft sein kann, ist aber vor allem auch eine Frage des Städtebaus und der Verkehrspolitik. In unserem Buch "Eine Ökonomie der kurzen Wege" haben wir versucht, das Potential einer solchen Politik aufzuzeigen.
Eine bessere Perspektive – mit Fragezeichen
In Stichworten: Kernstück ist eine sozial gut durchmischte Nachbarschaft von etwa 500 Bewohnern. Der individuelle Wohnraum ist mit rund 25 Quadratmetern pro Kopf knapp, dafür gibt es viele Gemeinschaftsräume. Man wohnt dort aber nicht nur, sondern ist auch Teil einer (sehr beschränkten) Produktions- und Konsumgemeinschaft. Kinderhütedienst und Gastronomie werden gemeinsam organisiert. Teils mit bezahlter, teils mit freiwilliger Arbeit. Im Idealfall betreibt die Nachbarschaft einen Bauernhof mit Pächter oder Vertragsbauer.
Die Nachbarschaften leben nicht allein. Etwa 30 Nachbarschaften bilden ein Quartier mit einem Kindergarten, Primarschule, Quartierzentrum, Quartierläden etc. Etwa 20 Quartiere bilden eine Stadt mit ihrer Verwaltung, höheren Schulen, Theater, Museen etc. Innerhalb der Stadt ist alles innerhalb von 20 Velominuten erreichbar. Etwa 80 Prozent der bezahlten Arbeit, die in der Stadt geleistet wird, dient letztlich dem städtischen Bedarf.
In einem solchen Umfeld gehen die monetären Ausgaben für Miete, Kinderkrippe, Verkehr, Nahrung und Unterhaltung deutlich zurück. Wir schätzen, dass ein Paar mit zwei Kindern die Kosten um rund 30 Prozent und den Zeitaufwand für Erwerbsarbeit und Arbeitsweg um 10 Wochenstunden pro Elternteil senken kann. Rentnerpaare können ihren Finanzaufwand dank freiwilliger und bezahlter Arbeit in der Gemeinschaft ebenfalls deutlich senken. Fünf bis zehn Prozent der bezahlten Arbeit fallen innerhalb der Gemeinschaft an. Das schafft einen gewissen Puffer gegen die Arbeitslosigkeit und entlastet den Sozialstaat.
So weit ein kursorischer Blick in eine mögliche bessere Zukunft. Der Weg dorthin ist mit vielen Fragezeichen gepflastert. Da gibt es noch einigen Diskussionsbedarf. Wichtig ist vorerst, dass wir diese Perspektive überhaupt sehen können. Zu diesem Zweck müssen wir uns erst einmal von dem inzwischen schon über Generationen antrainierten rein marktwirtschaftlichen Denkschema lösen.