„Die Welt ist so, wie der Mensch sie macht“, sagte einst Friedrich Dürrenmatt. „Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht“, sagt heute der Weltbiodiversitätsrat der Uno in seinem ersten Bericht zum globalen Zustand der Biodiversität. Zwischen den beiden Statements liegen rund 50 Jahre.
Zustand der Erde
1700 Seiten umfasst dieser erste Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) zum Stand der Vielfalt auf der Erde, der im Frühling 2019 veröffentlicht wurde. Dessen Verdienst ist es zweifellos, Wissen über die Zusammenhänge zur globalen biologischen Vielfalt aufzubereiten und in verständlicher Terminologie der Leserschaft zur Verfügung zu stellen. Was er bewirken soll? Uns allen, insbesondere den Politikerinnen und Politikern dieser Welt, klaren Wein über die Fragilität unserer Erde einzuschenken. Aufzurütteln: Das grösste Massensterben, das der Mensch je ausgelöst hat, muss gestoppt werden. Der Bericht warnt nicht nur, er zeigt auch auf, mit welchem Verhalten wir reagieren können, sollten, müssen.
Das Artensterben bedroht die Menschheit selbst. Zu dieser nüchternen Konklusion kommen die über 400 Experten und Forscher aus 50 Ländern. Die Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen hat zur Folge, dass von den weltweit acht Millionen Tier- und Pflanzenarten rund eine Million vom Aussterben bedroht ist. Etwas konkreter anhand einiger Beispiele: Innerhalb von 50 Jahren sind die Wälder Mittelamerikas um ein Viertel geschrumpft. Über 40 Prozent der Amphibienarten, fast ein Drittel der Korallen und mehr als ein Drittel der marinen Säugetiere sind bedroht. Annähernd 10 Prozent der Säugetierrassen, die wir zur Nutzung als Fleischlieferanten nutzen, sind ausgestorben. Mehr als die Hälfte der afrikanischen Vogel- und Säugetierrassen könnte dem Klimawandel zum Opfer fallen. Besonders gravierend: im asiatisch-pazifischen Raum könnten schon in 30 Jahren die wirtschaftlich nutzbaren Fischbestände verschwunden sein.
Gründe für das Desaster
Aus den vielen Tausenden von wissenschaftlichen Arbeiten geht hervor, dass folgende Faktoren diese alarmierende Entwicklung hauptsächlich beeinflussen. Durch die Nutzung von Land und Meer sind ein Viertel aller Landflächen und zwei Drittel der Ozeane entscheidend durch den Menschen verändert. Um 70 Prozent haben die invasiven Pflanzenarten zugenommen und gleichzeitig einheimische verdrängt. Natürlich sind auch Klimawandel und Umweltverschmutzung Gründe für das Artensterben. Der grösste Treiber für den sich verschlechternden Zustand der Erde ist die intensive Landnutzung.
Zweifellos ist kein Ökosystem unbeeinflusst vom Menschen. (Die beliebte Ausrede der Klimaleugner: „Solche Phasen der Erwärmung hat es schon immer gegeben“ – diese falsche Behauptung ist bezüglich Artensterben für einmal nicht zu bemühen.) Der offensichtliche Zusammenhang zwischen menschlichem Einfluss und den negativen Folgen für die Natur sind zu erschlagend. Eine Forscherin, die als Leitautorin des Berichts an den abschliessenden Verhandlungen des Weltbiodiversitätsrats in Paris teilnahm: „Die Nutzung und Übernutzung natürlicher Ressourcen durch den Menschen hat beispiellose Züge angenommen.“
Was nichts kostet, ist nichts wert
Wenn wir uns dem Kern des Problems Biodiversitätsverlusts und Zerstörung der Ökosysteme annähern wollen, hilft uns Pavan Sukhdev, Präsident des WWF International, weiter: „Die Zerstörung der Ökosysteme und der schleichende Verlust der Biodiversität – von Arten, Genen und Lebensräumen – birgt enorme Risiken für unsere Gesundheit, Gesellschaft, Wirtschaft. Denn die Natur ist das Fundament für alles.“ (Bulletin)
Sukhdev bezeichnet die Umweltzerstörung als „Marktversagen“, wobei er mit Markt wohl nicht nur die Wirtschaft, sondern ebenso die Gesellschaft meint: „Die Natur ist wie eine kostenlose Mahlzeit für uns. Ob saubere Luft, reines Wasser oder die Bestäubung der Pflanzen – wir geben für die Ökosystemleistungen der Natur keinen Cent aus. Alles was nichts kostet, scheint für uns nichts wert zu sein, und so betreiben wir Raubbau an der Natur.“
Sukhdev ist davon überzeugt, dass es nicht ohne Regulierungen und Anreize durch die Politik geht und dass eben kontraproduktive Subventionen für schädliche Industrien – etwa die 1000 Milliarden Dollar pro Jahr für fossile Brennstoffe – abgeschafft werden müssen. Je schneller, desto besser. Vergleichbar mit der Situation in der Klimadiskussion kommt er zum Schluss, dass es dagegen politische Anreize für private Investitionen in eine grüne Wirtschaft (nachhaltige Landwirtschaft, erneuerbare Energie) braucht. An jene Kreise, die sich immer über neue staatliche Eingriffe in die Wirtschaft beklagen: ohne diese geht – wie Vergangenheit zeigt – eben gar nichts.
Reptilien und Luchse im Schweizerland
Wir haben uns das Land gut aufgeteilt. Dörfer und Städte (Flächenanteil 8%) wachsen unaufhörlich. Die landwirtschaftliche Produktion, Anteil 36%, („natürlich aus der Schweiz“) wird immer intensiver. Den Wald (31%) „bearbeiten“ wir mit Mountain-Bike oder als Jogger als Gratis-Erholungsraum. Was übrig bleibt (25%) sind unproduktive Flächen; Gletscher – ob sie schmelzen oder nicht – zählen wie der Fels dazu.
Ein Drittel aller Schweizer Arten ist bedroht. Zwei Drittel des Stickstoffs, der die empfindlichen Ökosysteme belastet, stammen laut dem Bundesamt für Umwelt aus der Landwirtschaft. Als Folge davon figurieren von den einheimischen Reptilienarten knapp 80% auf der Roten Liste. Für die vormals ausgestorbenen, jetzt wieder angesiedelten Luchse, zählen Wilderer und Autos als grösste Bedrohung.
Nachhaltiges Handeln als Dank für das „Geschenk der Natur“
Der Biodiversitätsrat bezeichnet die Ganzheit der Ökosystemdienstleistungen als „Geschenk der Natur“ an uns Menschen. Damit meint er wohl nicht zuletzt auch die immateriellen Leistungen – die Schönheit oder den Erholungswert dieser Natur. Mit konkreten Zahlen äussert der Weltbiodiversitätsrat sich aber nur, was den Wert einzelner Ökodienstleistungen betrifft. Gefährdet sieht er etwa jenen Teil der Ernten die aufgrund des Rückgangs an bestäubenden Insekten pro Jahr gefährdet sind: Auf 235 bis 557 Milliarden US-Dollar schätzt er diesen Wert. Zudem: bei 14 der 18 vom Weltbiodiversitätsrat näher betrachteten „Dienstleistungen“ zeigen sich die Auswirkungen der Biodiversitätskrise bereits in abnehmenden Leistungen (NZZ).
Wer dies nicht einfach hinnehmen will, wird nachhaltiger handeln müssen. Somit ist ein grundlegender Wandel nicht nur in der Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft angesagt. Darunter kann man z. B. verstehen: nachhaltiger Konsum, nachhaltige Produktion, nachhaltige Umweltpolitik. So beginnt die vernünftige Reaktion auf diese Hiobsbotschaften: Wollen wir diese Verlustraten verkleinern, sind wir alle gefordert.
Nachhaltigkeit ist weit mehr als ein in der Politik und Wirtschaft oft missbrauchtes Schlagwort. Wer persönlich zu Hause, im Garten, bei der Ernährung oder der Ferienplanung dem Gebot der Nachhaltigkeit nachkommt, leistet seinen kleinen Beitrag. Dass die bisherigen Massnahmen ungenügend sind und sich nicht bewährt haben, sollte aus den oben gezeigten Punkten einleuchten.