Journal21: Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist schwierig und man hat den Eindruck, dass es in den letzten Jahren noch schwieriger geworden ist. Stehen wir da vor einer ernsthaften Krise?
Dieter Freiburghaus: Das glaube ich nicht. Die EU ist ein riesiges Gebilde und hat viele Probleme am Hals, die Schweiz gehört zu den kleineren. Die EU wird nicht mutwillig eine Krise vom Zaun reissen, und die Schweiz schon gar nicht. Die Schwierigkeiten werden weitergehen, aber ich vermute, im gleichen Rahmen wie bisher.
Frau Calmy-Rey ist aber offenbar der Ansicht, dass wir auf eine Krise zusteuern, weil sich die EU nicht kooperationswillig zeigt.
Das ist wahlkampfbedingter Theaterdonner.
Liegen denn Probleme eher in Brüssel oder eher in der Schweiz?
Natürlich in der Schweiz. Für Brüssel sind wir ein ganz eigenartiges Land. Wir wollen nicht beitreten, wir wollen aber alles haben, jedenfalls wenn es um den Marktzutritt geht - und noch darüber hinaus. Wir wollen eigentlich Dreiviertel des EU-Rechtsbestandes, aber beitreten: Nein!
Wir wollen insbesondere keine klare Regelung der ganzen Beziehungen. Wir sind nicht Norwegen. Mit denen hat die EU kein Problem, denn Norwegen ist Mitglied des EWR. Wir sind aber auch nicht ein normaler Drittstaat, mit denen man nur Handelsbeziehungen unterhält. Dieses Halb-dazu-Gehören-Wollen, aber letztlich Doch-nicht-dazu-Gehören-Wollen, dieses Beharren auf der formellen Souveränität, das schafft für Brüssel ein Problem.
Aber es ist ganz klar: Das Problem sind wir. Die EU hat uns bisher die Verträge, die wir wollten, weitgehend gegeben. Und sie verhandelt mit uns weiter über Verträge, die wir gerne haben möchten. Das ist auch im Interesse der EU. Und einiges haben sie zusätzlich von uns verlangt, damit es ein Gleichgewicht gibt. Dass Brüssel jetzt eine institutionelle Lösung, ein Rahmenabkommen, von uns will, das ist – aus Brüsseler Sicht – das Selbstverständlichste in der Welt. Doch die Schweiz stemmt sich dagegen. Das ist im Moment der Hauptstreitpunkt
Sind denn die Schwierigkeiten, die Schweiz mit der EU hat, nur ein Sonderfall der Tatsache, dass die Schweiz keine klare Vorstellung davon hat, was sie in der Welt für eine Stellung einnehmen soll und will?
Das kann man ohne weiteres so sagen, wobei der Rest der Welt uns eigentlich keine grösseren Probleme stellt. Da haben wir sehr gute Handelsbeziehungen, schliessen ein Handelsabkommen nach dem anderen ab. Das ist das, was die Schweiz wirklich interessiert. Wir machen in der Entwicklungshilfe gerade so das, was ungefähr anständig ist. Mit Herrn Ghadhafi hatten wir Probleme, mit den USA haben wir das Steuerproblem. Das hängt natürlich mit der Stellung der Schweiz in der Welt zusammen. Ich glaube aber nicht, dass wir eine explizitere Aussenpolitik bräuchten. Unser aussenpolitisches Handeln ist opportunistisch und diffus, das ist aber bei den meisten Staaten nicht anders. Die Aussenpolitischen Berichte des Bundesrates unterlegen dies dann jeweils mit einigen abstrakten Prinzipien.
Bei Europa ist das anders. Da haben wir uns so extrem angenähert und sind auf so extrem viel eingestiegen, dass wir langfristig in einer ziemlich ungemütlichen Situation sind. So geht das auf die Dauer einfach nicht. Man kann einem Club nicht mit einem Bein beitreten, und mit dem anderen Bein will man aber unbedingt draussen bleiben. Europa tickt nicht so. Europa tickt über die Aufnahme, und dann ist man dabei. Und dann heisst es „Mitgegangen – mitgefangen!“ Die Schweiz in dieser komischen Sonderstellung stellt natürlich für die EU ein Problem dar. Was uns fehlt, ist eine Europapolitik. Wir haben keine.
Die Bilateralen, die heute als Strategie ausgegeben werden, waren am Anfang – nach 1992 – als Provisorium gedacht. Heute tut man so, wie wenn das eine Strategie wäre, aber das ist natürlich keine Strategie.
Gibt es denn auf der Seite der EU „objektive“ Probleme für die Schweiz wie die Euro-Krise, das „Demokratiedefizit“ oder unklare weltpolitische Ambitionen?
Die EU gleicht in mancher Beziehung der Schweiz, die hat auch keine klare Aussenpolitik. Nach Marignano hat sie sich aus der Weltpolitik zurückgezogen, wurde neutral und zwar deswegen, weil sie intern nicht in der Lage war, eine kohärente Aussenpolitik zu formulieren. Und genau so ist auch die EU nicht in der Lage, eine solche kohärente Aussenpolitik zu formulieren. Das wird sich auch nicht ändern. Europa wird diesbezüglich so eine Art Schweiz, die sich zunehmend neutral verhält und keine Truppen mehr hat und sich in diesem Wurmfortsatz des eurasischen Kontinents möglichst friedlich zurückzieht und eine Mauer drum herum baut. Insofern sind wir uns recht verwandt.
Das Demokratiedefizit der EU ist so ein Stereotyp. Die EU ist einfach kein Staat und kann darum nicht im üblichen Sinne demokratisch sein. Die EU wird ja kaum von jemandem geliebt, aber keiner will austreten – im Gegenteil, viele wollen beitreten. Nur die Schweiz will das eben nicht. Wir sind klar der Sonderfall in Bezug auf Europa. Wir haben das Problem, dass wir diesem eigenartigen funktionalen Zweckverband nicht beitreten wollen, aber an allen Vorteilen – vor allem am Markt – da möchten wir schon teilhaben.
Und auf der Schweizer Seite: die unklare Interessenlage, institutionelle Probleme wie die direkte Demokratie oder zu viel Mitsprache der Kantone: Sind das die „objektiven“ Probleme, die von der Schweiz ins Verhältnis hineingetragen werden?
Nicht unbedingt. Die Aussenpolitik ist klar Sache des Bundes, zuerst des Bundesrates. Und die Kantone werden beigezogen, aber wenn man sie dann fragt, was sie wollen, dann wissen sie auch nicht was, weil sie sich auch nicht einig sind in Bezug auf die Aussenpolitik.
Die direkte Demokratie ist kein Problem, weil in der Schweiz mehr EU-Abstimmungen gewonnen worden sind als in jedem EU-Land. Um es einmal deutlich zu sagen: Wenn die economiesuisse den Geldhahn öffnet, weil sie etwas unbedingt will, dann kommt auch das Ja. Und darum werden wir auch kein Problem mit der Personenfreizügigkeit bekommen. Das wird die Wirtschaft schon richten. Es gab ja kurz, nachdem die SVP zu zündeln anfing, schon ein ganzseitiges Inserat von Wirtschaftskreisen, wonach auf die Personenfreizügigkeit auf keinen Fall verzichtet werden könne.
Ich habe darum keine Befürchtungen, weder um den jetzigen Bestand noch um das, was wir zusätzlich möchten zum Beispiel im Bereich der Energie, wo man sich materiell binnen drei Monaten mit der EU einigen könnte. Solange die Wirtschaft Dinge will und braucht, solange kann man dem Volk diese Dinge auch so darlegen und erklären, dass es am Ende zustimmt. Das alles ist kein Problem.
Das Problem ist, dass die EU sagt: Wir sind mit diesem institutionell chaotischen Vorgehen nicht länger einverstanden. Insbesondere mit dieser unsystematischen Rechtsübernahme, die dauernd Rechtsunsicherheiten schafft. Darum will die EU jetzt einen institutionellen Rahmen. Das ist das einzige Problem.
Gibt es den neben diesen „objektiven“ Problemen das Thema der Mentalität, dass wir Schweizer einfach keine Europäer sein wollen?
Das möchte ich nicht so sagen. Wir sind ja europäisch bis in die Wurzeln. Es gibt auch – vielleicht mit der Ausnahme von Luxemburg oder Belgien – kein Land, das stärker in die EU integriert wäre mit Waren- und Finanzströmen. Wir haben für eine Milliarde Franken Handel pro Tag. Das muss man sich einmal vorstellen. Dazu kommen die umfangreichen Personenströme. Wir sind in diesem Sinne das besteuropäisierte Land. Die Deutschen zum Beispiel sind auch nicht primär Europäer, sie sind einfach in der EU. Niemand ist Europäer. Es gibt gar keine Europäer.
Man kann es auch einfacher sagen: Jedes Land, das der EU beigetreten ist, hatte zu diesem Zeitpunkt einen ganz klaren Grund für diesen Beitritt. Das gilt für alle 27 Länder, und die Schweiz hatte nie einen solchen Grund. Sie war nie unter Druck beizutreten - solange wir den Zutritt für unsere Waren haben offen halten können. Wäre das nicht der Fall, so müssten wir ja von einem Tag auf den anderen beitreten.
Nun gibt es ja die Vorstellung, dass die Schweiz überhaupt draussen bleiben kann. Ist das eine reale Möglichkeit?
Auf jeden Fall. Die Hürden für einen Beitritt sind so gigantisch, dass ich einfachheitshalber immer sage: zu meinen Lebzeiten nicht mehr, obwohl man in meiner Familie zur Langlebigkeit neigt. Seit ich mich mit Europa befasse, ist mir klar: Wir werden nicht beitreten. Wir müssen einfach – wie damals, als wir rund 200 Jahre lang von Frankreich abhängig waren – ungefähr tun, was man von uns verlangt. Und es ist schon so: es hat leicht koloniale Züge, aber das haben wir so gewollt. Wenn wir täglich in Brüssel vorsprechen müssen und sagen: das und das hätten wir gerne auch noch, dann müssen wir halt schon auch nach deren Pfeife tanzen.
Machen wir jetzt den Blick auf die Politik der letzten vier Jahre. Wurden da irgendwelche tauglichen Lösungen gefunden, oder war ganz einfach nicht viel los in Bern?
Die Forderung von Brüssel nach einer institutionellen Gesamtlösung ist zwar schon drei, vier Jahre alt, aber am Anfang ertönte sie nur ganze leise. In der Schweiz hat man dazu geschwiegen, geschwiegen, geschwiegen. In den Sachdossiers hat man bis vor kurzem immer wieder Resultate erzielt. Man hat zum Beispiel eine Ergänzung des Zollabkommens wegen der sogenannten 24-Stundenregel in wenigen Monaten hingekriegt. Aber auch sonst passen wir uns laufend an, nicht nur in Verwaltungsfragen. Oft ist das Parlament damit befasst, und zu Schengen haben wir sogar eine Volksabstimmung gehabt wegen der biometrischen Pässe.
Es gibt laufend Gesetzesanpassungen, die im Publikum gar nicht gross wahrgenommen werden. Wir passen uns in einem Masse dem EU-Recht an, das der Bevölkerung gar nicht wirklich klar wird. Da geht es natürlich oft um technische Details, die ganz einfach niemanden interessieren. Es sei denn, die SVP hat ein Interesse daran, das Thema hochzuspielen. Darum besteht die Illusion in der Schweiz, wir seien gesetzgeberisch noch hochgradig autonom, aber das sind wir nicht. 40 Prozent der Gesetzgebung sind von Europa aus beeinflusst, und das geht so unter der Hand, weil die Wirtschaft das braucht.
Jetzt stellen wir aber fest, dass die EU zögert. Sie sagt nicht Nein zu einzelnen Dossiers, aber sie sagt immer deutlicher, wir wollen zuerst diesen institutionellen Rahmen haben, bevor wir weitergehen.
Wir haben also keine Europapolitik, weil wir die Probleme der Wirtschaft auf dem Verhandlungsweg lösen konnten. Die Wirtschaft hat mit den Bilateralen erhalten, was sie wollte. Ihre Kampagne für genau dieses Vorgehen war also sehr erfolgreich. Und wo es keine Probleme gibt, muss man auch keine Politik formulieren. Die economiesuisse hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren viel investiert in den Slogan „Bewährte Bilaterale“. Davon wollen die sicher nicht abgehen.
Trauen sie dem im Herbst zu wählenden Parlament mit einer wahrscheinlich weiter zersplitterten Mitte eine bessere Handlungsfähigkeit zu, oder kommt es gar nicht drauf an?
Das kommt nicht sehr drauf an. Das Parlament hat ja nicht wirklich eine Europapolitik betrieben, und zwar darum, weil die beiden Mitteparteien einfach europapolitisch auf Tauchstation gegangen sind. Die waren einmal in den 90er Jahren mehr oder weniger für einen Beitritt zur EU, für den EWR haben sie sogar gekämpft, aber seither sind sie nicht mehr aktiv aus Angst, dass sie von rechts eins aufs Dach bekommen.
Die einzige Neuerung, die man sich nach den Wahlen vorstellen kann, ist, dass der Bundesrat sagt: Wir sehen den Bedarf nach einer institutionellen Rahmenlösung. Jetzt, im Wahljahr, sagt das aber sicher niemand. Es ist denkbar, dass der Bundesrat nach den Wahlen ein Verhandlungsmandat formuliert und ein, zwei Jahre verhandelt. Und wenn dann ein Ergebnis dabei herauskommt, für das der Bundesrat die economiesuisse gewinnen kann, dann werden die sagen: Ja, das ist eine sinnvolle Lösung und eine Weiterführung der bewährten Bilateralen. Und dann wird man das dem Volk auch so verkaufen.
Dahinter steckt die Vorstellung, dass sich Wirtschaft, in Sachen Europapolitik das bei den Stimmberechtigten erkaufen wird, was sie braucht.
Wenn der Bundesrat der economiesuisse klar machen kann, dass er bei den Sachdossiers nur weiter kommt, wenn er auch auf eine solche institutionelle Lösung eintritt, dann sehe ich nicht, wer sich da bei der economieusisse dagegenstellen könnte. Es gibt ja auch noch die Variante EWR, die ausgearbeitet ist und seit sechzehn Jahren funktioniert. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass das eine Lösung wäre, aber da hat man im Moment bei economiesuisse noch eine Blockierung wegen der Banken. Aber vielleicht kommt man am Ende doch wieder auf den EWR.
Wenn die Mitteparteien abgetaucht sind und die SVP zündelt und letztlich die economiesuisse sagt, wo es durchgehen soll, was für eine Rolle spielen denn die Linken und Gewerkschaften in der Gestaltung der künftigen Europapolitik?
Die Gewerkschaften wollen nur eins: Im Hinblick auf die Personenfreizügigkeit möglichst viele ihrer Forderungen nach Kontrollen und Mindestlöhnen durchsetzen. Die SPS will zwar theoretisch beitreten, aber auf keinen Fall das Briefpostmonopol aufgeben. Also: Auch die Linke hat keine Europapolitik.
Glauben sie, dass das Thema Europa irgendwie wahlentscheidend werden kann?
Nein, das bleibt völlig im Hintergrund. Indem die anderen Parteien das Thema Europa praktisch aus den Wahlkampfthemen gestrichen haben, haben sie aus ihrer Sicht das klügste getan. Sie geben so der SVP keinen Anlass, dauernd dieses Thema wieder aufzuwärmen. Die hat das ja kürzlich erneut versucht mit dem Rückzug des Beitrittsgesuchs, aber je weniger die anderen Parteien in diesem Thema unternehmen, umso weniger ist es auch für die SVP von Interesse, darauf einzugehen. Mit der Kritik an der Personenfreizügigkeit kann die SVP nicht weiter gehen. Wenn die Führung der SVP an dem rüttelt, was heute gilt, da gibt es schon innerhalb der SVP – vom Wirtschaftsflügel – massiven Widerstand.
Das Thema Europa ist so tot wie nur möglich. Da passiert gar nichts. Es ist nicht einzusehen, wie man Europa im Wahlkampf thematisieren könnte.