Der britische «Economist» hat in der vergangenen Woche seine Titelgeschichte mit den Worten «Der Winterkrieg» überschrieben. Natürlich ist damit die aktuelle Phase des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gemeint. Aber der Begriff «Winterkrieg» weckt automatisch historische Assoziationen zu ähnlichen skrupellosen Überfällen in dieser Region. Gemeint ist Stalins Winterkrieg gegen Finnland 1939/40 und Hitlers verlorene Schlacht um Moskau 1941/42. Auch Napoleons unheroischer Rückzug aus dem teilweise abgebrannten Moskau im Oktober 1812 wurde im Lauf des Winters zur militärischen Katastrophe.
Der «Economist» geht in der erwähnten Titelgeschichte nicht auf diese Beispiele früherer Winterkriege ein, sondern befasst sich ausführlich mit den aktuellen militärischen und politischen Perspektiven der ukrainischen Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg, den Putin im Februar gegen das Nachbarland losgetreten hat. Die Zeitschrift weist darauf hin, dass führende Vertreter der Ukraine in Hintergrundgesprächen die militärischen Entwicklungen für die kommenden Monate eher skeptisch und als sehr gefährlich beurteilen. Demgegenüber neigten westliche Kommentatoren mehr dazu, die russischen Streitkräfte in der Ukraine als festgefahren einzuschätzen, mit Nachschubschwierigkeiten kämpfend und wenig Erfolgsaussichten in absehbarer Zukunft.
Vor einer neuen Offensive gegen Kiew?
Der ukrainische Generalstabschef Waleri Saluschni erklärte gegenüber dem «Economist», auf russischer Seite würden gegenwärtig um die 200’000 neue Truppen für den Einsatz vorbereitet. Er habe keine Zweifel, dass es spätestens im Frühjahr eine neue militärische Offensive gegen die Hauptstadt Kiew geben werde. Auch ein neuer russischer Angriff über die ukrainische Nordgrenze, unterstützt von Streitkräften aus Belarus (dessen Diktator Lukaschenko inzwischen weitgehend zu einer Marionette seines Schutzpatrons Putin geworden ist) wird in Kiew nicht ausgeschlossen. Als dringend wird in Kiew auch die Verstärkung der ukrainischen Abwehrmöglichkeiten gegen die russischen Angriffe auf die zivile Elektrizitäts- und Wasserversorgung im ganzen Land dargestellt. Diese zielten nicht nur darauf ab, die ukrainische Wirtschaft zu zerstören, sondern gleichzeitig den Widerstandsgeist der Bevölkerung zu unterminieren.
Es mag sein, dass solche eher düster eingefärbte Ausblicke durch ukrainische Führungskreise gegenüber einer angelsächsischen Zeitschrift auch von der Sorge beeinflusst sind, die im Westen nicht unumstrittene Bereitschaft zu fortgesetzten Waffenlieferungen könnte durch allzu zuversichtliche Lageeinschätzungen beeinträchtigt werden.
Stalins Winterkrieg gegen Finnland
Angesichts der gegenwärtig schwer berechenbaren Entwicklung des «Winterkrieges» um die Ukraine könnte der Blick auf ähnlich angelegte Konfrontationen, die sich in der Vergangenheit in dieser europäischen Region abgespielt haben, zum Nachdenken anregen. Am nächsten liegt zweifellos ein Vergleich mit dem finnisch-sowjetischen Winterkrieg der von Ende November 1939 bis zum März 1940 dauerte. Wie Putin heute gegenüber der Ukraine hatte der sowjetische Diktator Stalin im Herbst 1939 gegenüber dem finnischen Nachbarland territoriale Ansprüche entlang der gemeinsamen Grenze in Karelien gestellt. Stalin behauptete, die Sicherheit der sowjetischen Grossstadt Leningrad sei durch ihre Nähe zur nur einige Dutzend Kilometer entfernten finnischen Grenze bedroht – als ob das militärisch und grössenmässig weit unterlegene Nachbarland je im Sinne gehabt hätte, die frühere russische Hauptstadt anzugreifen. Nachdem Helsinki Stalins Forderungen abgelehnt hatte, griff die Rote Armee das Nachbarland im November 1939 an.
Die meisten Historiker gehen davon aus, dass Stalins Kriegsziel darin bestand, das gesamte finnische Staatsgebiet unter seine Kontrolle zu bringen. Wie die Ukraine hatte dieses Gebiet zum Zarenreich gehört, doch anders als im Fall der Ukraine hatte Lenin während der Oktoberrevolution 1918 die staatliche Unabhängigkeit Finnlands akzeptiert. Den finnischen Streitkräften gelang es im Winterkrieg zunächst, den russischen Überfall zum Stehen zu bringen und den Angreifern schwere Verlust zuzufügen. Doch in den ersten Monaten des Jahres 1940 wurde die sowjetische Übermacht zusehends erdrückender. Im März musste Helsinki in einen Friedensvertrag einwilligen, durch den das Land einen grossen Teil Kareliens an die Sowjetunion verlor. Immerhin konnten die Finnen dank der eindrucksvollen Demonstration ihres Widerstandswillens gegenüber dem imperialen Nachbarn ihre staatliche Eigenständigkeit bewahren. Stalin, der übrigens drei Monate vor dem Überfall den berüchtigten Nichtangriffspakt mit Hitlerdeutschland abgeschlossen hatte, musste sein längerfristiges Ziel einer umfassenden Unterwerfung Finnlands aufgeben.
Hitlers und Napoleons Scheitern im Kampf um Moskau
Zwei Jahre später, im Dezember und Januar 1941/42, musste auch der ebenso machtbesessene Angreifer Hitler erkennen, dass sein Plan einer schnellen Eroberung der sowjetischen Hauptstadt Moskau am Widerstandswillen des Gegners, der wie die Finnen um ihren Heimatboden kämpfte, und an den eisigen Härten des russischen Winters zerschellt war. Es war die erste schwere Niederlage von Hitlers Wehrmacht seit Beginn des 1939 begonnenen Eroberungskrieges in Europa. Auch wenn der Krieg noch weitere vier Jahre andauerte, so dürften nach der Schlacht um Moskau der im Nazireich so aufwendig beschworene Nimbus von Hitlers Unbesiegbarkeit in manchen Köpfen ins Wanken gekommen sein.
Ähnliche Ernüchterungen haben sich in Europa auch nach Napoleons überstürztem Rückzug aus Moskau im Spätherberst 1812 ausgebreitet. Zwar hatte der französische Imperator offenbar nie vor, die Hauptstadt dauerhaft zu besetzen. Nachdem er im September 1812 dort einmarschiert war, rechnete er mit einer Art Kapitulation des Zaren, die zu einem vorläufigen Ende des Kriegsfeldzuges in Russland führen würde. Doch die russische Führung blieb entschlossen, weiter zu kämpfen. So musste sich Napoleon wegen seiner kaum funktionierenden Nachschublinien und auch angesichts der zum grossen Teil abgebrannten Unterkünfte in Moskau schon im Oktober 1812, einen Monat nach dem Einmarsch, zum Rückzug aus der Stadt entschliessen. Im hereinbrechenden Winter und ständig bedrängt von russischen Kampfverbänden, wurde die chaotische Absetzoperation für die Grande Armée zu einem vernichtenden Debakel – und zum Anfang vom Ende des napoleonischen Imperiums.
Wird auch der Aggressor Putin zum Verlierer?
Was sagen uns diese Beispiele im Hinblick auf Putins mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Natürlich nichts Definitives. Die Geschichte wiederholt sich nicht nach festen Mustern und die Zukunft ist notorisch unberechenbar. Immerhin zeigen diese historischen Seitenblicke, dass kriegerische Überfälle, bei denen die Aggression eindeutig nur von einer Seite begonnen wird, auch für einen militärisch scheinbar überlegenen Gegner keineswegs zwangsläufig zum Erfolg führen. Wenn der weitherum erwartete Sieg des verblendeten Aggressors ausbleibt, dann lässt sich das neben anderen Faktoren wesentlich mit dem von ihm sträflich unterschätzten Widerstandswillen des überfallenen Volkes erklären. Der bisherige Verlauf von Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine ist geradezu ein Musterbeispiel für solche Fehlkalkulationen.
Die Erinnerungen an Stalins Winterkrieg gegen Finnland, Hitlers Scheitern in Moskau und Napoleons niederschmetternden Rückzug aus Russland lassen daher die Hoffnung als durchaus intakt erscheinen, dass Putin am Ende mit seinem gewissenlosen Überfall auf das slawische Nachbarland ebenso desaströse Erfahrungen machen wird wie diese machtberauschten imperialen Vorgänger.