Wer in einem „Foreigners Regional Registration Office“ (FRRO) auf der Wartebank sitzt, hat viel Musse, darüber zu meditieren. Falls es genügend Wartebänke gibt. Denn es gehört zum Wesen der indischen Bürokratie, dass man Bittsteller stehen lässt. Und deren gibt es viele – allein in Delhi bis zu 500 am Tag.
Notorische Zwei-Monats-Guillotine
Etwa die Französin, die ich bei meinem letzten Besuch dort traf. Ihre Aufenthaltsbewilligung war schon lange abgelaufen. Ihr Antrag auf Wiedererneuerung war noch länger hängig, und deshalb musste sie bei jeder Auslandsreise eine Ausreise-Erlaubnis einholen. Jedesmal ein Arbeitstag. Oder wie meine Freunde J. und H., die letzte Woche einmal mehr einen (vergeblichen) Anlauf genommen haben, um der notorischen Zwei-Monats-Guillotine zu entgehen.
Es handelt sich um die Vorgabe für Touristen mit Visa für mehrere Einreisen. Nach jeder Ausreise müssen sie zwei Monate warten, bevor sie wieder ins Land dürfen. Mein Freund A. etwa war letztes Jahr in Delhi. Er hatte auch in Nepal zu tun und wollte daher über Kathmandu nach Bombay weiterreisen. Als er dort ankam, verweigerte ihm die Grenzpolizei die Einreise; er hätte zwei Monate in Nepal vor einer Wiedereinreise eine ‚Cooling Period‘ einschieben müssen. Was ihn rettete: Die Polizei hatte bereits den Pass seiner Partnerin abgestempelt, obwohl sie dieselbe Missetat begangen hatte.
Ausgeklügelte Schikane
Die Schikane ist noch ausgeklügelter. In ihrer Sorge darüber, dass sich ein Indien-Reisender unnötig erhitzen könnte, muss er sich spätestens nach drei Monaten draussen vor der Tür wieder abkühlen. Wer also gedacht hat, die sechs (oder neun, oder zwölf Monate) einfach in Indien zu verbringen und um jede Zollschranke einen grossen Umweg zu machen, muss sich vorsehen.
Nach höchstens drei Monaten verschreibt ihm das Innenministerium diese Zwei-Monate-Kur. Und natürlich zählen diese Monate bei der Anrechnung der Visadauer. Wer also nach dem temporären Exil wieder anklopft, hat (im Fall eines 6-Monatsvisums) nur noch einen Monat, bevor der Willkomm abgelaufen ist.
Natürlich gilt dies nicht für Geschäftsreisende, die alle paar Monate (oder Wochen) nach Indien reisen. Für jene hat das Land ein X-Visum eingeführt, das die Zwei-Monatsschranke aufhebt. „Dies sind die Leute, die wir wollen“, sagte mir der Visa-Konsul auf der Indischen Botschaft in Bern vor einem Jahr. „Sie bringen Geld ins Land – durch Investitionen, durch Aufenthalte in teuren Hotels, Flugreisen, Taxis etc. Die meisten dieser Rucksack-Touristen geben kaum Geld aus, wenn sie nicht sogar auf unsere Kosten leben“.
Weltmeister im Sich-ins-Bein-Schiessen
Wirklich? Und wie steht es mit der demografischen Tatsache, dass der reiche Westen immer mehr Pensionäre zählt, die Zeit und Geld zum Reisen haben? Sie können längere Aufenthalte im Ausland planen, oder sie verbringen die kalten Wintermonate jedes Jahr in einer Zweitresidenz in den Tropen. Rucksacktouristen?
Andere Länder – Thailand vor allem, aber auch Indonesien, Malaysia, Sri Lanka – haben erkannt, was für ein Devisenfluss damit ausgelöst wird – Transportwirtschaft, Bauwesen, Lebensmittelkonsum, Arbeitsplätze. Nur Indien, "Incredible India!", übt sich in der einen Sportdisziplin, in der es unbestrittener Weltmeister ist: sich treffsicher ins eigene Bein zu schiessen.
Es ist einerlei, ob diese bürokratische Arroganz so krude daherkommt wie in der Indischen Botschaft oder ob sie rationaler formuliert wird. Sicherheit ist das oberste Gebot, hiess es bei der Stellungnahme im FRRO. Der Beamte nannte auch das Stichwort: David Headley, der amerikanisch-pakistanische Doppelbürger, der zwischen 2006 und 2008 als Terror-Kundschafter nach Bombay ein- und ausreiste und die Attentate vom 26.November vorbereitete. Kein einziges Mal merkten die Grenzer bei Headleys häufigen Grenzübertritten, dass sein US-Pass auch Angaben über seine pakistanische Herkunft enthielt – selbst als er zum "Debriefing" von Mumbai nach Karachi flog.
Indien bereitet sich immer für den Terrorangriff von gestern vor
Und wie verhindert man zukünftige David Headleys? Einfach: Man verleidet ihnen die Wiedereinreise mit dem subtilen Instrument der Zwei-Monatssperre. Es ist fast so genial wie die Anti-Terror-Manöver, die Marine und Küstenwache regelmässig vor meiner Haustüre durchführen, indem sie das Hafengebiet von Mumbai für jeglichen Verkehr absperren. Sie nennen dies "real-life simulation".
Wenn in meinem Leben hier in Indien manchmal etwas Bange verursacht, dann ist es diese Unfähigkeit, so etwas wie intelligente Systeme einzuführen und durchzusetzen. Indien bereitet sich immer für den Terrorangriff von gestern vor. Und natürlich gibt es die kardinale Regel, wonach soziale Hierarchie und Bakshish jedes noch so wasserdichte System aushebeln können. Indien ist ein offenes Land, weil praktisch alles verboten ist und es daher mehr Ausnahmen als Regeln gibt.
Widersprüchlichkeit und Vagheit öffnen der Willkür ("discretion" heisst das doppelbödige Wort) Tür und Tor. Es steckt System dahinter, in diesem Fall ein intelligentes. Denn wenn für alles Ausnahmen möglich sind und Deutungsbedarf entsteht, dann ist die Instanz, die Ausnahmen gewährt und Regeln auslegt, allmächtig. Meine Schweizer Freunde bekamen sogar im FRRO den Rat verpasst, sie sollten die Zwei-Monatsregel doch einfach ignorieren. Es ist ein Steilpass für die Kollegen am Flughafen, die gern einmal, "for a consideration", ein Auge zudrücken.
Legaler Schwebezustand
Das gilt übrigens auch für Ausländer, die in Indien arbeiten. Früher, als nur Diplomaten und Missionare hier lebten, war dies nicht weiter schlimm. Aber inzwischen hat sich die Wirtschaft globalisiert, und auch indische Multis müssen ihre Teams international besetzen und einsetzen, darunter auch in der Zentrale. So hat denn die Regierung verfügt, dass bei einem "Projekt" nicht mehr als ein Prozent ausländische Arbeitskräfte beteiligt werden dürfen.
Doch was ist ein "Projekt“? Ein Geschäftsauftrag? Eine Firmenabteilung? Das ganze Unternehmen? Niemand weiss es, ausser den Orakeln in den Ministerien für Arbeit, für Finanzen, für Äusseres, für Inneres, die jeden Bittsteller mit "offenen Händen" empfangen.
PIO - Person of Inian Origin
Mir bleiben diese Sorgen erspart, bin ich doch, dank meiner Ehe mit einer Inderin, eine "Person of Indian Origin" (PIO). Der Ausweis erlaubt mir den Aufenthalt in Indien ohne Einschränkung; sogar Steuern darf ich bezahlen. Ich habe dieses sprachliche Wunderding richtig liebgewonnen, auch weil es mir den Gang ins FRRO erspart.
Aber bin ich so frei? Wenn es darum geht, eine Vespa zu kaufen, eine SIM-Karte zu lösen oder ein Bankkonto zu eröffnen, ist mir dies verwehrt. Denn ich habe keinen "Proof of Residence", keine "feste Adresse". Denn diese steht nur auf der Rationenkarte, dem Wählerausweis oder der Telefon- bzw. Stromrechnung. Die ersten beiden sind mir verwehrt, und Rechnungen müssen auf den Namen des Hausbesitzers ausgestellt sein, in diesem Fall den meiner Frau. Derweil richte ich mich in meinem legalen Schwebezustand ein, eine Örtlichkeit ebenso dubios wie mein "Indian Origin".