Das Problem mit Dokumentarfilmen, die auf aktuelle Ereignisse reagieren, ist bekannt. Sie altern immer schnell. Besonders dann, wenn sie sich mit einem aktuellen globalen Geschehen in Progress mit Auswirkungen bis vor die eigene Haustüre beschäftigen.
Schaffen wir das?
Das hätte auch für „Willkommen in der Schweiz“ Geltung haben können, wenn nicht die renommierte Autorin und Regisseurin Sabine Gisiger – Schweizer Filmpreis-Trägerin und Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste – sich der Sache angenommen hätte.
Im September 2015 wurde sie gefühlsmässig wie viele andere vom Flüchtlingsstrom Richtung Europa umgetrieben. Rund eine Million Menschen strebten nach Europa, rund 40’000 suchten in der Schweiz Zuflucht. Schaffen wir das?
Zehn Flüchtlinge sind zehn zu viel
Behördlich wurden der kleinen Aargauer Gemeinde Oberwil-Lieli zehn Flüchtlinge zur Betreuung zugeteilt. Für einige waren das zehn zu viel. Zum Beispiel für Andreas Glarner, Gemeindeammann von 2006 bis 2017 (er stellte sich nicht mehr zur Wahl). Der erfolgreiche Unternehmer ist seit November 2015 auch Nationalrat und vertritt die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) im Eidgenössischen Parlament in Bern.
Glarner hatte in einer Sendung im Ersten deutschen Fernsehen (ARD) erklärt, er werde sich dafür einsetzen, in seiner Gemeinde keine Migranten aufzunehmen. Und vorschlagen, dem Kanton Aargau stattdessen eine Ersatzentschädigung von gegen 300’000 Franken zu bezahlen, um die Unterbringung der Flüchtlinge anderswo zu unterstützen.
Gutes Schweizer Geld anstatt gelebter, unmittelbarer Nächstenliebe? Die Frage wurde im In- wie im Ausland rege diskutiert. Und sie wurde für Sabine Gisiger zur Initialzündung für ihr Projekt „Willkommen in der Schweiz“.
Demokratie, scharf beobachtet
Gisiger traf sich umgehend mit Andreas Glarner und einigte sich mit ihm darauf, die Ereignisse in Oberwil-Lieli mit der Kamera zu begleiten. Es stand eine Gemeindeversammlung an, in der darüber abgestimmt wurde, ob man Asylanten aufnehmen soll oder nicht. Der Souverän, wie es so schön heisst, sagte ja zur Aufnahme der Flüchtlinge. Von nun an verfolgte Gisiger ein Jahr lang – bis zum Herbst 2016 – wie sich die Lage im „Juwel am Mutschellen“, wie sich Oberwil-Lieli in der Eigenwerbung nennt, entwickelte: Demokratie, scharf beobachtet.
Sabine Gisiger begleitete Andreas Glarner in der Drehphase unter anderem auf einer Informationsreise ins griechische Flüchtlingslager Sindos, wo der Schweizer Michael Räber mit seinem Hilfswerk „Schwizerchrüz“ humanitär tätig ist. Sie befragte Einwohnerinnen und Einwohner in Oberwil-Lieli und prominente Protagonisten unterschiedlicher ideologischer Provenienz.
Gleichnishafte Feldstudie in fünf Akten
„Willkommen in der Schweiz“ ist als gleichnishafte Feldstudie in fünf Akten angelegt, ähnlich einem antiken Drama. Als Skriptautorin und Regisseurin lenkt Gisiger nun den Zuschauerblick auf die kleinste Zelle im schweizerischen Gemeinwesen, die Gemeinde. Weil sie unter die Lupe nehmen will, was mit Bürgern und Bürgerinnen, Behörden, gewählten Volksvertretern und Interessengruppen zwischenmenschlich passiert, wenn in einem gut organisierten und funktionierenden Lebens-Mikrokosmos plötzlich Menschen aus fernen Kulturkreisen, die niemand eingeladen hat, einfach da sind, zum Anfassen nah.
Die Schweiz und ihre Flüchtlinge
Nun geht es aber in „Willkommen in der Schweiz“ nicht darum, die Einzelschicksale von Zuwanderern zu röntgen. Und so erscheinen sie in diesem Film weder als devote Bittsteller, potenzielle Unruhestifter, noch als Mitleid heischende Opfer. Wenn sie im Bild sind, erlebt man sie als Individuen, Frauen, Männer, Kinder. Allein, in Gruppen oder zusammen mit Einheimischen am Familientisch.
Sie erinnern allein durch ihre unaufgeregte Präsenz an die bewegte Historie der Schweiz im Umgang mit Einwanderern und Flüchtlingen jeder Couleur. Und an die damit verzahnten Überfremdungs-Phobien, an teils diffuse, irrationale Abschottungs-Reaktionen. Um das zu verbildlichen baut Gisiger Film-Archivmaterial ein, vom Zweiten Weltkrieg im 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Drei Protagonisten, drei Positionen
Neben Andreas Glarner fand Gisiger in der grünen Regierungsrätin Susanne Hochuli eine weitere prominente Polit-Protagonistin. Sie war bis zu ihrem Rücktritt 2016 im Kanton Aargau zuständig für Asylfragen. Hochuli ist eine engagierte, eigenwillige Persönlichkeit, die politisch nach tragbaren, vernünftigen Lösungen sucht und bemüht ist, die Ängste der Bevölkerung vor dem Fremden abzubauen. Privat lieferte sie dafür das beste Beispiel: 2013 nahm sie eine Familie aus Angola auf dem eigenen Landwirtschaftsbetrieb auf, später kamen eine Mutter mit zwei Kindern aus Eritrea dazu.
Die dritte Protagonistin ist Johanna Gündel, Tochter einer lokal verwurzelten, politisch interessierten Familie mit einer Bio-Gemüsegärtnerei. Die Studentin engagiert sich als Bürgerin zusammen mit anderen Einwohnern in der „IG-Solidarität Oberwil-Lieli“ und setzt sich, wie im Film ersichtlich wird, erfolgreich unter anderem gegen Ausgrenzung und Abschottungstendenzen ein.
Keine Thesen, kein Dogma
„Willkommen in der Schweiz“ legt es nicht darauf an, das globale Thema süffig und quotenfördernd auf ein geharnischtes „Arena“-Duell zwischen weltanschaulich divergierenden Exponenten wie Andreas Glarner, Johanna Gündel oder Susanne Hochuli zu verkürzen. So wie es medial (und sozial-medial) bis zum Überdruss Usus geworden ist, wenn parteipolitisch-ideologisch motivierte Macht-Rangeleien das ernsthafte Ringen um die Behebung relevanter Probleme zu überlagern drohen.
Sabine Gisiger erstellt, nüchtern betrachtet, eine Chronik der Ereignisse. Dabei vermeidet sie alles Thesenhafte, Dogmatische. Und buhlt nicht um Szenenapplaus – egal von welcher Seite. Wer sich vom denkbaren Feindbild Andreas Glarner ausgehend etwa ein SVP-Bashing erhofft, wird nicht bedient. Auch dort nicht, wo dieser an einer Versammlung im bernischen Langenthal mit seinen Partei-Granden auftritt.
Dass das eine oder andere kernige Votum im Kinosaal – zumindest bei Teilen des Publikums – hämisch gefärbte Erheiterung auslösen könnte, soll nicht unerwähnt bleiben. Allerdings verebbt die Schadenfreude bald und weicht einer erhöhten Konzentration auf das Geschehen. Dass dem so ist, ist Sabine Gisigers lakonischem filmerzählerischem Stil geschuldet: Er kapriziert sich nie darauf, jemanden der Lächerlichkeit preiszugeben.
Keine Verbrüderung, keine Verschwisterung
Das lässt sich auch daran festmachen, dass die Protagonisten in „Willkommen in der Schweiz“ Zeit und Raum bekommen, um ihre unterschiedlichen Positionen kenntlich zu machen und zu vermitteln, ohne dass ihnen übers Maul gefahren wird. Da schaut und hört man ungeachtet eigener weltanschaulicher Präferenzen, Wertvorstellungen und Personen-Sympathie interessiert zu. Ohne sich be- und gedrängt zu fühlen.
Dass es Sabine Gisiger zudem tunlichst vermeidet, Glarner, Hochuli und Gündel manipulativ zu plakativen Verbrüderungs- oder Verschwisterung-Ritualen zu verführen und so eine faule Konsens-Lösung für das Allzu-Komplexe vorzugaukeln, hat etwas Erfrischendes: Die Autorin nimmt ihre Klientel vor der Kamera so ernst wie das Publikum.
Das Prinzip Gisiger
„Willkommen in der Schweiz“ lebt filmisch gesehen vom eleganten Understatement im Narrativen, von der unaufdringlichen Kamera-Arbeit von Helena Vagnières. Und von der Musik Balz Bachmanns; als Komponist arbeitete er für Filmer wie Xavier Koller oder Dany Levy, als Begleitmusiker etwa für Sophie Hunger. In „Willkommen in der Schweiz“ wird er unterstützt vom Mechaje Ensemble aus Basel und vom Intergalaktischen Chor aus Zürich: Jeweils rund 40 Mitwirkende aus der ganzen Welt – mit dabei Migrantinnen und Migranten – setzen, im besten Sinne des Wortes, mehr-stimmige Akzente.
Hochwertige Gestaltungselemente wie in „Willkommen in der Schweiz“ finden sich im Werk von Sabine Gisiger immer wieder, so etwa auch in ihren Filmen wie „Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte“ (2015), „Yalom’s Cure“ (2014) oder „Guru“ (2010). Diese Frau hat ein Flair dafür, aus der Distanz heraus emotionale Nähe zu schaffen; man darf es auch Haltung nennen.
„Ich arbeite weiter …“
Sabine Gisigers Film ist längst abgedreht, die Welt hat sich weitergedreht. Auch in Oberwil-Lieli. Andreas Glarner hat nicht mehr als Gemeindeamman kandidiert, er wird aber seine Politik mit Garantie auf nationaler Ebene weiterverfolgen. Susanne Hochuli wiederum ist seit ihrem Rücktritt 2016 nicht mehr Regierungsrätin. Und Johanna Gündel bleibt hoffentlich die beherzte Streiterin für humanitäre Ideale, als die man sie im Film kennenlernt.
A propos Familie Gündel: Im September 2017 verpasste Johanna Gündels Vater, Roger, den Einzug in den Gemeinderat von Oberwil-Lieli. Sein Kommentar dazu (wir zitieren aus der Aargauer Zeitung vom 25.9.2017): „Ich arbeite weiter, und wenn ich auch nicht meine Ideen oder Vorschläge direkt in den Gemeinderat einbringen kann, dann habe ich immer noch die Möglichkeit, mich an der Gemeindeversammlung zu Wort zu melden, wenn ich meine Meinung einbringen will.“
„Lueget vo Bärge und Tal“
Wie das in etwa abläuft, hat Sabine Gisiger festgehalten. „Willkommen in der Schweiz“ erinnert dank seiner unprätentiösen Machart plausibel daran, dass die drängenden humanitären Anliegen in Sachen Mitmenschlichkeit nicht links oder rechts, nicht oben oder unten bereinigt werden. Eher doch im Für- und Miteinander.
Sabine Gisigers kluger Film endet übrigens passend mit einem der allerschönsten Schweizer Volkslied überhaupt, von Sängerinnen und Sängern aus aller Welt wunderbar interpretiert: „Lueget vo Bärge und Tal“. Da reisst es einem das Herz auf: „Willkommen in der Schweiz!“
Kinostart: Donnerstag, 19.10.2017
Premieren und Rahmenveranstaltungen: www.dschointventschr.ch/news/willkommen-in-der-schweiz-kinostart