In mehreren Städten und Ortschaften der kurdischen Teile der Türkei gibt es die neue Erscheinung der "Jungen", die unter dem Namen YDG-H (für "Revolutionäre Patriotische Jugend Bewegung") steht. Diese Bewegung hat schon bei den blutig verlaufenen Protesten gegen die türkische Politik gegenüber Kobane vom vergangenen Oktober eine Rolle gespielt. Kobane war damals vom IS belagert und weitgehend eingenommen worden. Die türkische Regierung jedoch verbot es den türkischen Kurden, ihren syrischen Landsleuten in Kobane zur Hilfe zu kommen.
Radikalisierung
Doch jetzt, nachdem der Waffenstillstand der türkischen Regierung mit der PKK zusammengebrochen und die türkische Luftwaffe zu Bombenangriffen auf die Kämpfer der PKK innerhalb der Türkei und in dem Zufluchtsgebiet der PKK in den Bergen jenseits der irakischen Grenze übergegangen ist, ruft die Jugendbewegung offen zum Aufstand in den kurdischen Städten und Ortschaften auf.
Das Vorgehen der türkischen Polizei in den Kurdengebieten, die Verhaftungen durchführt und auch manchmal scharf schiesst, hilft den jugendlichen Aktivisten, Einfluss zu gewinnen. In der Stadt Cizre, nah an der syrischen Grenze in ihrem östlichsten Sektor, hat die Bewegung ganze Quartiere besetzt. Sie beansprucht, ihre Wohnquartiere gegen die Polizei zu verteidigen. Sie gräbt zu diesem Zweck Gräben, die den Polizeiautos den Zugang versperren sollen.
Das syrische Vorbild
Auf der syrischen Seite der Grenze leben ebenfalls Kurden, und sie haben dort im Schatten des Bürgerkrieges und mit Hilfe der PKK ihre eigenen quasi autonomen Regime einrichten können. Da sie dort im Kampf gegen den IS stehen, erhalten sie auch Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe und deren Koalition.
Solche Vorbilder in ihrer nächsten Nähe beeinflussen ohne Zweifel die "patriotische revolutionäre Jugendbewegung". Die Gefahr von Einflüssen dieser Art über die Grenze hinweg ist jedoch genau das, was die türkische Regierung veranlasst hat, den Friedensprozess mit der PKK, der zwei Jahre lang gedauert hatte, abzubrechen und einmal mehr zu Bombardierungen der PKK zu schreiten. Bisher sollen die türkischen Kampfflugzeuge über 400 Luftschläge gegen die PKK durchgeführt haben.
Kämpfe im eigenen Stadtquartier
Neu an der Jugendbewegung ist, dass sie nicht - wie bisher die PKK - in den Bergen kämpft, sondern in den kurdischen Städten eine städtische Guerilla zu bilden versucht. Bisher war es so, dass Kurden, die sich der PKK anschliessen wollten, ihre Wohnorte verliessen und sich "in die Berge" begaben. Jedermann wusste, dass, wer diesen Schritt tat, mit grosser Wahrscheinlichkeit nie mehr heimkehren wird, sondern früher oder später in den Kämpfen sein Leben verliert.
Demgegenüber ist es natürlich ein relativ leichter erster Schritt für kurdische Jugendliche, sich in ihren Wohnstätten und ihren Heimatquartieren zusammenzufinden und dort eine Art von mehr oder weniger amateurhafter Stadtguerilla zu beginnen. Die Folgen werden sich erst in ihrem ganzen Gewicht auswirken, wenn es dazu kommt, dass die türkische Armee eingreift, um die Polizei zu unterstützen. Was beinahe unvermeidlich geschehen wird.
Generationenunterschiede
Kurden der älteren Generation, die die 1990er Jahre durchlebt haben, als Hunderttausende von Soldaten in den kurdischen Gebieten standen und alles taten, um die PKK niederzuschlagen, wissen, wie es ist, wenn der innere Krieg in seiner ganzen Schärfe ausbricht. Die Jungen, die dies nicht erlebt haben, mögen davon gehört haben. Doch dies ist nicht das Gleiche, wie es zu erleben. Deshalb ist die Frage der Widerstands in den Städten auch eine Generationenfrage. Viele der älteren Kurden sagen, so etwas wie damals wollten sie nicht noch einmal durchmachen.
Aus der Sicht der türkischen Regierung und des türkischen Präsidenten erscheint die Kurdenfrage in einem anderen Licht. Die zusätzliche Wahl nach jener vom vergangenen 7. Juli, die nicht zu dem Resultat führte, das Erdogan wünschte, ist nun endgültig auf den 1. November angesetzt. Ziel der Regierungspartei, die Erdogan anführt, ist es, in dieser zweiten Wahl die absolute Mehrheit für die Partei des Staatschefs, AKP, zu erreichen, die in der vergangenen Wahl verfehlt wurde. Die Kurden sind dabei der entscheidende Faktor. Es war die Kurdenpartei DHP unter ihrem Chef, Selahettin Demirtasch, welche die 10 Prozent Hürde überwand, die das türkische Wahlgesetz niederlegt und damit 80 Abgeordnete ins Parlament brachte. Wenn es Erdogan und seiner Partei gelingt, diesmal die Kurden unter 10 Prozent der Stimmen niederzudrücken, erreicht die AKP mit grosser Wahrscheinlichkeit die begehrte absolute Mehrheit.
Hoffen auf kurdische und auf nationalistische Stimmen
Erdogan rechnet damit, dass ein Krieg gegen die Kurden, wie er ihn nun begonnen hat, der Kurdenpartei HDP schaden wird. Ältere und konservative Kurden könnten sich von der HDP abwenden und zur AKP zurückkehren, so dürfte die Rechnung lauten, wenn sie zu fürchten beginnen, dass die schlechten alten Zeiten zurückkehren könnten, in denen die türkische Armee zahllose kurdische Dörfer niederbrannte und die türkischen Gerichte Zehntausende von Kurden zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilten.
Zur Rechnung von Erdogan gehört auch der nationalistische Faktor. Die bitteren Feinde der kurdischen Bewegung, die vor allem auf der türkischen Rechten und Extremen Rechten zu finden sind, stimmten angesichts des damals noch bestehenden kurdischen Waffenstillstands und Friedensprozesses für die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalen Bewegung), nicht für die AKP. Wenn nun die Regierungspartei einen Krieg gegen die Kurden führt, könnten einige dieser Stimmen zu ihr zurückkehren.
Die richtige Dosis Krieg
Die Frage ist allerdings: Wieviel Krieg gegen die Kurden ist gut für die Regierungspartei und ihre Wahlaussichten? Wenn der Krieg droht, allzu gefährlich zu werden und sich auch auf die von Kurden bewohnten Teile der türkischen Grossstädte auszudehnen beginnt - Istanbul, Ankara, Izmir in erster Linie - wäre denkbar, dass eine grössere Zahl der türkischen Stimmbürger Erdogan und die Seinen dafür verantwortlich sehen, dass der Krieg wieder ausgebrochen ist und das Wohl der Nation in Frage stellt, wirtschaftlich und politisch.
Also braucht Erdogan etwas Krieg gegen die Kurden, möglichst ausserhalb der Türkei, aber nicht zuviel und nicht zu sehr im Landesinneren. Der frühere Krieg gegen die Kurden mit der Zerstörung kurdischer Dörfer hat dazu geführt, dass heute grosse Bevölkerungsteile aus Kurdistan in die türkischen Städte einwanderten, wo sie oft in eigenen Vierteln und Elendsquartieren zusammenleben. Dort gibt es logischer Weise Kontakt mit Vertretern der türkischen Linken und extremen Linken. Demirtasch, der seine Wahlkampagne in den vergangenen Wahlen nicht nur auf die Kurden sondern auch auf die türkische Linke hin ausrichtete, konnte von dieser Entwicklung profitieren.
Druck auf Demirtasch und seine Partei
Schon heute ist deutlich, dass ein zweiter Zweig der Wahlstategie der Regierungspartei dahin zielt, die Partei Demirtaschs möglichst zu schädigen. Wenn Indizien gefunden werden können, dass Politiker der DHP Demirtaschs in irgendeiner Hinsicht mit der PKK kollaboriert oder offen sympathisiert haben könnten, geht die Polizei gegen sie vor und sorgt dafür, dass sie wegen Zusammenarbeit mit der "terroristischen" PKK vor Gericht gelangen. Dies geschieht zur Zeit besonders vielen Bürgermeistern, die in den kurdischen Städten und Ortschaften gewählt worden sind. Die meisten von ihnen gehören der DHP an oder gelten als ihre Sympathisanten, "und sind damit auch heimliche Sympathisanten der PKK", wie die türkische Polizei immer wieder sagt.
Abstreitbare Verbindung zur PKK
Die anfangs erwähnten Jugendgruppen der YDG-H stehen ohne Zweifel der PKK ideologisch nahe. Doch ihre Anhänger sagen, sie handelten autonom und nähmen keine Befehle von der PKK-Führung entgegen. Der türkische Staat jedoch dürfte der Meinung sein, es handle sich bei ihnen um eine städtische Untergruppe der PKK. Um die Wahlziele zu erreichen, müsste das Vorgehen gegen sie, das zweifellos an Schärfe noch zunehmen wird, vermeiden, dermassen einschneidend zu werden, dass es in den kommenden Wahlen zu empörten Protesten der kurdischen Bevölkerungsteile kommt - jedoch auch kräftig genug, um der Jugendbewegung keine lokalen Siege in kurdisch bevölkerten Stadtteilen zu erlauben. Dies wird eine schwierige Gratwanderung für die von Natur aus keineswegs zart besaiteten türkischen Sicherheitskräfte.
Die Verantwortung für den Krieg gegen die Kurden
Demirtasch, dessen bisherige politische Erfolge darauf beruhten, dass er zu einem friedlichen und legalen Übergang zu mehr Autonomie für die kurdischen Landesteile aufrief, sieht sich angesichts der kriegerischen Spannungen, die sich nun um die Kurdenfrage entwickeln, gefährdet. Er strebt weiterhin nach zu einer friedlichen Lösung und Fortsetzung des Friedensprozesses, der "noch nicht ganz tot" sei, oder doch wiederbelebt werden könnte. Doch Demirtasch selbst weiss gewiss, dass Erdogan zur Zeit aus wahltaktischen Gründen die gegenläufige Konfliktlinie mit den Kurden verfolgt. Für den demokratisch ausgerichteten Kurdenpolitiker Demirtasch dürfte es darum gehen, in dem bevorstehenden Wahlkampf einer möglichst grossen Zahl von türkischen Wählern, unter Kurden und Türken, deutlich zu machen, dass es Erdogan und seine persönlichen politischen Pläne sind, die den bitter nötigen Landesfrieden in der Türkei aufs Spiel setzen, um Erdogans Führerstellung womöglich lebenslänglich zu sichern.