Im vergangenen Juni wollte der deutsche Bundestag ein imposantes Zeichen setzen: Die Sprecher aller Fraktionen äußerten die Überzeugung, dass sich das nationale Selbstbestimmungsrecht Israels auf Dauer nur im Rahmen der Gründung eines souveränen und lebensfähigen Staates Palästina sichern lasse. Anlass war eine Aktuelle Stunde zur Aufklärung des israelischen Militärangriffs auf den internationalen Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für Gaza am 31. Mai, aus der sich dann eine Grundsatzdiskussion entwickelte. Gerade die enge Partnerschaft mit Israel verpflichte uns Deutsche, so der außenpolitische Sprecher der Freien Demokraten Rainer Stinner, nicht jede Handlung der jeweiligen israelischen Regierung kritiklos hinzunehmen. Ähnlich deutlich äußerte sich die Bundesdelegiertenkonferenz von „Bündnis 90/DieGrünen“ im November.
Israel selber sieht in eine düstere Zukunft
Der Bundestag wollte nachholen, was – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in anderen westlichen Parlamenten seit langem Konsens ist: Die Politik Benjamin Netanyahus und seiner Koalition reitet das Land in eine bedrohliche Krise hinein. Die daraus erwachsene Stimmung löst bei immer mehr Israelis die Sorge aus, dass ihr Staat eine historische Episode bleiben werde. Der erschreckende „brain drain“ speist sich aus der Furcht, dass Israel nicht an der militärischen Überlegenheit seiner Feinde scheitern werde, sondern dass sein ethisches Fundament – das Bekenntnis zur liberalen Demokratie, zu Rechtstaatlichkeit und zum Frieden mit seinen Nachbarn – Stück für Stück in die Mühlen der inneren Zersetzung gerät. So ist die Gewaltenteilung längst nicht mehr unumstritten.
Neues Nachdenken über die Beziehungen zu Israel im westlichen Ausland war die Folge. Zuerst meldeten sich Gruppen wie die deutsche Sektion von „Pax Christi“ zu Wort. Indem sie die Bundesregierung aufforderte, die Verantwortung für Israel und Palästina künftig am Primat der Rechtsgleichheit zu orientieren, schrieb sie ihre bisherige Überzeugung von der „doppelten Loyalität“ zugunsten einer „ungeteilten Solidarität für einen gerechten Frieden“ fort. Dass sie die entschiedene Aufwertung des Status der mehr als 1,2 Millionen arabisch-palästinensischen Bürger Israels einschließen muss, ist von Yitzhak Rabin bis Ehud Olmert eingestanden worden. Ohne ihre nachdrückliche Würdigung bleibt die nationale Koexistenz mit einem künftigen Staat Palästina pure Illusion. Vielmehr bedingen sich die Komponenten. Dass beide Staaten „ethnisch saubere“ nationale Entitäten sein müssten, gehört zu den schlichten Wunschbildern mit Vergangenheitswert.
Ein Brief an Brüssel
In das offene Debattenfeld stieß am 6. Dezember der Brief der 26 „European Former Leaders Group“ an den Präsidenten des Europäischen Rates Herman van Rompuy und die Hohe Repräsentantin für die Außen- und Sicherheitspolitik Catherine Ashton. Das Dokument fällt zunächst dadurch auf, dass es von den großen Namen in der EU-Politik getragen ist: von Chris Patten, Javier Solana und Benita Ferrero-Waldner über Hubert Védrine und Romano Prodi bis zu Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt. In einem klugen taktischen Schachzug erinnerten sie die Staats- und Regierungschefs zunächst an ihre Erklärungen und Resolutionen seit 2009, nämlich an die Bereitschaft zur Hilfe für das Gelingen des nahöstlichen Friedensprozesses auf den zentralen Regelungsfeldern: die endgültigen Grenzen auf der Basis vor dem Junikrieg 1967, Jerusalem, die Flüchtlinge, Sicherheit und Wasser.
Die Unterzeichner beließen es freilich nicht dabei, die Regierungen auf den Widerspruch zwischen politischer Rhetorik und politischem Handeln aufmerksam zu machen und sie zur Eindeutigkeit aufzufordern. Vielmehr verlangten sie an die europäische Adresse:
– pro-aktive, konkrete und umfassende Vorschläge in Abstimmung mit dem Nahost-Quartett von 2003 einschließlich eines Zeitplans für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen;
– die Wiederherstellung der eigenen Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die ungebremste Siedlungspolitik Israels, die erzwungene Exmittierung palästinensischer Familien in Ost-Jerusalem sowie auf die erheblichen Finanztransfers an beide Parteien, die gegenüber den europäischen Steuerzahlern gerechtfertigt werden müssten;
– die Überprüfung des Assoziierungsabkommens und anderer Vereinbarungen und Programme mit Israel;
– das Verbot der zollvergünstigten Einfuhr von Waren und Gütern aus den jüdischen Siedlungen der Westbank;
an die Adresse der Regierung in Jerusalem:
– die Aufhebung der Blockade des Gazastreifens, die sich als kontraproduktiv erwiesen habe und gegen das humanitäre Völkerrecht verstoße;
sowie an die Adresse der Europäer und die Regierenden in Ramallah und Gaza-Stadt gleichermaßen:
– die Förderung des Ausgleichs zwischen den verfeindeten palästinensischen Fraktionen, um den Prozess der „nation-building“ voranzubringen.
Kritiker des Dokuments dürften bemängeln, dass der Katalog aus der Feder von Persönlichkeiten stammt, die der politisch-operativen Diplomatie entwachsen sind, und die generelle Frage anschließen, warum sich Politiker außer Diensten zu Einsichten äußern, die ihnen schon während ihrer Amtszeit hätten geläufig sein müssen. Man mag hinzufügen, auch die Autonomieregierung in Ramallah habe im Westen dafür gesorgt, dass der Boykott der Hamas-Regierung aufrechterhalten wird, um nicht mit dieser den politischen Gestaltungseinfluss teilen zu müssen. Auch die regionalen Kontexte des israelisch-palästinensischen Konflikts bleiben in dem Brief spürbar unterbelichtet.
Alles in allem erweist sich der Appell aus zumindest drei Gründen als bedeutsam: Er ruft die Europäische Union zu einer geschlossenen Nahostpolitik auf – „ersatzweise“ ließe sich empfehlen, dass die im östlichen Mittelmeer besonders handlungsfähigen Mitglieder der Gemeinschaft eine Vorreiterrolle spielen sollten, wie sie diese im Binnenverhältnis bei der EU-Finanz- und Wirtschaftspolitik bereits ausfüllen. Zum anderen hätte die Europäische Union zu überlegen, welche Früchte ihr sowie den Palästinensern und Israelis die Politik der Ausgewogenheit eingetragen hat, und sich zu einer Entscheidung durchringen, welches Israel und welches Palästina sie denn meinen, wenn sie dem Frieden zwischen beiden Völkern dienen wollen. Schließlich: Das übliche Argument ist verbraucht, im Nahen Osten auf Washington warten zu müssen. Der Brief der 26 belegt, dass Europa sehr wohl ohne den Partner jenseits des Atlantiks politische Verantwortung übernehmen kann.
Wer in jüngster Zeit mit israelischen Diplomaten gesprochen hat, wird den Eindruck mitgenommen haben, dass die Regierung in Jerusalem das als selbstverständlich geschätzte Ende der unverbrüchlichen Solidarität Europas befürchtet. Wenn der Sprecher des Jerusalemer Außenamtes den Brief als „extrem problematisch“ bezeichnet, weil er dafür sorge, dass die Rolle der EU bei der Suche nach Frieden in der Region weiter gering bleiben werde, können die europäischen Hauptstädte das israelische Kabinett vom Gegenteil überzeugen – und die Drohung ad absurdum führen.