Christoph Martin Wieland (1733–1813) ist einer der grossen Vergessenen. Jan Philipp Reemtsma stellt ihn in seiner neuen Biographie ins rechte Licht: Wieland ist der Begründer der Weimarer Klassik und ein Pionier der modernen deutschen Literatur.
Zusammen mit Lessing ist er der eminente Vertreter der literarischen Aufklärung in Deutschland. Wieland lässt Pomp und Formelhaftigkeit des Barock hinter sich, entwickelt einen natürlichen, gut sprechbaren Stil und legt mit seiner Erneuerung des Deutschen die Basis für die Literatur von Klassik und Romantik. Er holt für den deutschen Sprachraum eine Modernisierung nach, die England und Frankreich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert vorgespurt haben.
Vermutlich hätte das für Reemtsma schon gereicht, um ihm diesen Vergessenen und Verkannten lieb zu machen. Darüber hinaus findet er als scharfsinniger Intellektueller in seinem Protagonisten einen Geistesverwandten: Wieland ist der skeptische Aufklärer, der weder den Urteilen anderer noch seinen eigenen traut und die Dinge gern von mehreren Seiten betrachtet. Er bewegt sich in den Denkweisen eines Montaigne, Diderot oder Voltaire, eines Hobbes, Locke oder Hume.
Frauen in Wielands Leben
Christoph Martin Wieland, geboren 1733 in einem oberschwäbischen Dorf und aufgewachsen im Städtchen Biberach, wollte immer Dichter werden und legt schon vor seinem zwanzigsten Altersjahr vielbeachtete Talentproben vor. Nach einem Aufenthalt als «Dichterlehrling» bei Johann Jakob Bodmer in Zürich ist er zuerst daselbst und darauf in Bern als Hauslehrer tätig.
Immer wieder treten Frauen in Wielands Leben. Mit 17 Jahren verliebt er sich in seine drei Jahre ältere Cousine Sophie Gutermann (später von La Roche) – nota bene ohne sie je gesehen zu haben – und verlobt sich mit ihr. Die Verlobung wird drei Jahre später aufgelöst, aber Sophie von La Roche wird in seinem Leben noch mehrmals eine Rolle spielen.
In Bern begegnet er Julie Bondeli, der hochgebildeten jungen Salondame, die mit stupendem Wissen, Witz und Temperament zum Schrecken jener Männer wird, die nicht mithalten können. Auch Wieland ist erst mal platt und seufzt: «Vive les femmes idiotes!» Doch bald schon geniesst er es, mit einer Frau von gleich zu gleich zu verkehren, und trotz seines anfänglichen Widerstands gegen eine Liaison verliebt er sich. Doch es klappt nicht mit den beiden. Julie zieht ihn an und hält ihn auf Distanz. Sie wird auch später allein bleiben. Der briefliche Kontakt zu Wieland besteht, bis sie 47-jährig stirbt.
1760 kehrt Wieland nach Biberach zurück, wo er in der Stadtverwaltung eine leitende Funktion übernimmt, die ihm Zeit für seine Schriftstellerei lässt. Hier schlittert er in das dunkelste Kapitel seines Lebens: Die Sängerin Christine Hogel erwartet nach dreijähriger Liaison ein Kind von ihm, doch da sie streng katholisch und er protestantisch ist, wird eine Heirat von ihren Eltern und vom Klerus verhindert. In Panik verspricht er ihr immer wieder irgendwelche Lösungen, die sich jeweils in Luft auflösen – eine elende Geschichte, in der Wieland nicht gut dasteht. Er weiss das.
Um in bürgerliche Wohlanständigkeit zurückzukehren, soll nun geheiratet werden, wie es sich gehört. Sophie von La Roche, hilflose Beraterin bei der traurigen Christine-Geschichte, vermittelt ihm eine Gattin, die Augsburger Kaufmannstochter Anna Dorothea Hillenbrand (1746–1801). Sie heiraten 1765 in Biberach.
Was als arrangierte Vernunftehe (oder vielmehr Verlegenheitsehe) beginnt, entwickelt sich zu einer ebenso tiefen wie verlässlichen Liebe. Wieland spricht von seiner Frau, mit der es keinen intellektuellen Austausch gab, stets mit inniger Zärtlichkeit und grösstem Respekt. Reemtsma, sichtlich berührt von der aus heutiger Sicht nicht gerade modellhaften Beziehung, schildert diese ausführlich und zitiert einen langen Auszug aus einem Brief Wielands an Sophie von La Roche, in dem dieser ausführlich von seiner Gattin spricht – ein «Denkmal» für Anna Dorothea, wie Reemtsma es nennt.
Agathon, ein erster deutscher Bildungsroman
Mit der zweibändigen «Geschichte des Agathon» legt Wieland 1766/67 einen grossen Reise- und Abenteuerroman vor, der in der Antike nach dem Peloponnesischen Krieg spielt. (In der Schweiz wurde er wegen Unmoral und Unchristlichkeit übrigens verboten.) Agathon ist ein naiv-idealistischer junger Mann, der schrittweise desillusioniert wird, bis er schliesslich einen Lehrer findet, der ihm den Weg zur Weisheit zeigt. Agathons Widersacher Hippias, ein Skeptiker und Realist, stellt den Gutmenschen auf harte Proben. Nicht ohne Grund haben Leserinnen und Leser in diesem Hippias die Haltung Wielands verkörpert gesehen und schliessen können, dieser sympathisiere mit Positionen Voltaires oder Humes, was für die Reputation im obrigkeitsfrommen Deutschland nicht ganz risikolos war.
«Agathon» gilt als erster deutscher Bildungsroman. Zudem sind in diesem Werk die Beziehungen, vor allem jene zwischen der Titelfigur und Hippias, mit psychologischer Subtilität ausgestaltet; auch dies eine literarische Innovation. Vor allem aber findet Wieland hier wie auch im schon zwei Jahre zuvor erschienenen Roman «Der Sieg der Natur über die Schwärmerei, oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva» zu seinem unverwechselbaren Ton. Er schreibt eine geschmeidige Prosa, deren lange Sätze leicht und elegant fliessen. Mehrfach fordert Reemtsma, man solle Wieland laut lesen, um die Feinheiten seiner Sprache, etwa die melodiöse Vokalverteilung, erfassen zu können. Reemtsma zitiert einen längeren Abschnitt aus «Don Sylvio» und fügt lakonisch an: «Wen so etwas nicht entzückt, dem ist nicht zu helfen.»
Shakespeare-Übersetzungen
Im Zeichen der Vervollkommnung sprachlichen Ausdrucks stehen auch Wielands Shakespeare-Übersetzungen, wiewohl es in erster Linie darum geht, Shakespeare in Deutschland endlich auf die Bühne zu bringen. Wieland schlägt bei diesem Projekt neue Wege ein. Dass er, der genialste Verskünstler seiner Zeit, sich für eine Übertragung der gebundenen Texte Shakespeares in freie Prosa entscheidet, liegt an Wielands kompromissloser Anforderung an sachliche und poetische Genauigkeit. Reemtsma stellt den Originaltext sowie Wielands Prosa-Übertragung und die spätere versförmige von Schlegel/Tieck einander gegenüber und kommt zum Schluss, dass Wielands Fassung dem Original näher und vor allem besser sprechbar sei. Schlegel/Tieck bieten eher eine Nachdichtung denn eine genaue Übertragung; ihre Version hat sich bis heute etabliert.
Wieland hat in seinen Shakespeare-Übersetzungen eine Menge neuer deutscher Wörter kreiert. Einige Beispiele aus Reemtsmas Liste hiervon: Abschied nehmen, Beobachter, heimatlos, humoristisch, kaltherzig, kummerbeladen, Modefratz, Morgenluft wittern, notorisch, rosenwangig, Säuglingsalter, scharfzüngig, Schulterklopfer, Sicherheitsklausel, Steckenpferd, Todesstimme, turmhoch, verpesten, Wortbrecher.
Vor allem aber hat Wieland den Deutschen ein Werk zugänglich gemacht, das «natürlicher» im Sinne von realitätsnäher und wirklichkeitsgesättigter ist als diejenigen anderer Autoren. Die Figuren dieser Dramen folgen keinen literarischen Konventionen; sie agieren aus, was menschenmöglich ist. Reemtsma zitiert den amerikanischen Literaturwissenschaftler Harold Bloom: «Shakespeare hat uns erfunden.»
Als Prinzenerzieher nach Weimar
Solche literarische Natürlichkeit ist auch Wielands Leitstern. In ihren Dienst stellt er seine Stoffe und seine Sprache; an beiden arbeitet er lebenslang, indem er auch bereits Publiziertes für spätere Ausgaben stets wieder neu redigiert, umstellt, kürzt, ergänzt.
Nach dem Intermezzo einer Professur für Philosophie in Erfurt wird Wieland als Prinzenerzieher nach Weimar gerufen. Es dauert, bis er sich mit Fürstin Anna Amalia auf den Modus seiner Anstellung einigt. Als sie es erreicht, dass er 1772 nach Weimar zieht, hat sie eine epochale Entscheidung herbeigeführt. Reemtsma: «Nicht die imperiale Weltstadt an der Donau, sondern die Miniaturresidenz an der thüringischen Ilm wurde das Zentrum der deutschen Literatur für mehr als ein halbes Jahrhundert.»
Wieland denkt intensiv über seine Bildungsaufgabe am Hof nach. Sein aufklärerisches staatspolitisches Denken bestimmt die Erziehungsziele. Dem nachmaligen Fürsten Carl August bringt er bei, die einzige Daseinsberechtigung des monarchischen Landesherrn liege im Glück seiner Untertanen. Es ist sozusagen die prädemokratische Vorwegnahme der Formulierung in der Verfassung der USA von 1776, welche «the pursuit of happiness» (das Streben nach Glück) zu den unveräusserlichen Menschenrechten zählt.
Das Viergespann der Weimarer Klassik
Etwas davon ist bei Carl August wohl hängen geblieben. Er regiert in der Folge im Sinn eines aufgeklärten Absolutismus und entwickelt sich nicht zum Übelsten der deutschen Fürsten. Carl August holt Goethe nach Weimar (1775), tobt mit diesem seine Jugend aus und bleibt zeitlebens mit ihm in tiefer Freundschaft verbunden. Goethe ist sogleich Weimars grosser Star. Seine Beziehung zu Wieland schwankt zwischen Hochachtung und Überheblichkeit. Wieland wiederum anerkennt neidlos Goethes Genialität, macht sich aber über dessen Selbstsucht keine Illusionen.
Gemeinsam schaffen es die beiden, Johann Gottfried Herder nach Weimar zu holen. Er wird daselbst Generalsuperintendent und Stadtprediger, ist also die lokale geistliche Autorität. Reemtsma hebt die strategische Bedeutung dieses Schachzugs für die Entwicklung des Literaturstandorts Weimar hervor. Was eine aufklärungsfeindliche kirchliche Obrigkeit anrichten kann, weiss man ja vom Fall Lessing versus Hauptpastor Goeze in Hamburg. Von Herder sind solche Querschüsse nicht zu befürchten. Er ist als bedeutender Philosoph und Theologe ein Intellektueller unter Intellektuellen.
Das berühmte Viergespann der Weimarer Klassik ist damit fast komplett. Fehlt noch Schiller. Der Freund Goethes kommt erstmals 1787 und ab 1799 definitiv nach Weimar; da ist Wieland schon ein bisschen aus der Mode geraten. Schillers Beziehung zu ihm ist freundlich distanziert und taktisch ausgerichtet: Schiller nutzt Wielands noch immer berühmten Namen, um selbst nach vorn zu kommen.
Herausgeber des «Merkur» und politischer Journalist
Wir springen zurück ins Jahr 1774: Wieland bringt den «Teutschen Merkur» heraus, eine Monatsschrift, die bald zum wichtigsten intellektuellen Organ des deutschen Sprachraums wird. Vorbild ist der «Mercure de France», der seit 1672 erscheint (und den es bis heute gibt!). Wielands «Merkur» bringt Nachrichten, Kommentare, Reiseberichte, Informationen über Technik und Wissenschaft, politische Abhandlungen, literarische Vorabdrucke und einen umfassenden Rezensionsteil. Wieland sorgt als Herausgeber für Vielfalt und Vielstimmigkeit. Der «Teutsche Merkur» existiert bis 1810, bringt es also auf 38 Jahrgänge.
In diesem Periodikum publiziert Wieland etliche seiner Werke neben denen anderer Autoren. Vor allem aber wird er hier zum politischen Journalisten. Als unvoreingenommener Beobachter und Kommentator der Französischen Revolution setzt er Massstäbe für eine aufklärerische Publizistik.
Was ist klassisch?
Ein ganz anderes Feld beackert er mit seinem «Oberon», einer märchenhaften Verserzählung. Mit dieser Rokoko-Dichtung hat Wieland den grössten Erfolg seines Lebens. Reemtsma nimmt das Stück zum Anlass einer genaueren Verortung derartiger Literatur. Ist sie «klassisch», wie der frühere Wieland-Biograph Sengle meinte? Kennzeichen der Klassik nach Sengle: «Gott spielt ein süsses leichtes Spiel mit der Welt.» Die Beispiele neben Oberon wären Faust II und die Zauberflöte.
Reemtsma stellt nun aber fest, dass im «Oberon» die Verse durchaus nicht so «süss und leicht» dahinflössen. Wieland zwinge seinem Text eine Klassizität auf, die ihm die Leichtigkeit nehme, deren Wieland doch wie wenige andere fähig sei. Klassische Dichtungen, so Reemtsma, brauchen eine Prise Ironie, um dem Kitsch und der Gravität zu entgehen. Goethe habe das in «Hermann und Dorothea» geschafft, weil die Versnovelle als Parodie konzipiert sei. Die «Iphigenie», Inbegriff des klassischen deutschen Dramas, hielt Goethe selbst für gelungen, weil sie so «verteufelt human» sei. Ähnliche Formen der Doppelbödigkeit hat Wieland in seinem Spätwerk erreicht.
Zwei geliebte Verstorbene im Grab an der Ilm
1797 kann Wieland sich den Traum erfüllen, aufs Land zu ziehen. Er kauft ein kleines Rittergut in Ossmannstedt, von Weimar etwa zehn Kilometer flussabwärts an der Ilm. Ruhig wird das Landleben allerdings nicht. Die grosse Familie, die zahlreichen Bediensteten und die vielen Besucher – Wieland kann sich seiner Berühmtheit, die ihm oft lästigfällt, nicht entziehen – sorgen für viel Betrieb. Eine der Besucherinnen, er kann sie irgendwann nicht mehr abwimmeln, ist Sophie von La Roche, die zu einer erfolgreichen Kitsch-Autorin und ziemlichen Nervensäge geworden ist.
Doch sie bringt ihre Enkelin mit: Sophie Brentano, eine bezaubernde blitzgescheite Frau, mit der Wieland sich versteht. Was heisst verstehen, er liebt sie! Die junge Sophie wird zur Freude seiner alten Tage. Im Jahr darauf zieht sie für länger nach Ossmannstedt, gehört zur Familie. Doch nach zwei Monaten löscht ein «Nervenfieber» diese strahlende Person aus. Wieland begräbt sie in seinem Park an der Ilm. Ihr Grab sieht er auch als letzte Ruhestätte für sich selbst vor.
Doch im Jahr darauf stirbt erst einmal Anna Dorothea und bekommt ihren Platz neben der toten Sophie. Wieland wird später zwischen die beiden zu liegen kommen. Dem Schwiegersohn Reinhold schreibt er über seine Frau: «Meine Anhänglichkeit an sie hatte in einer 35-jährigen Ehe mit jedem Jahr, mit jedem Tag zugenommen – ich hatte keinen Begriff, wie ich ohne sie leben könnte.»
Alterswerke
Von Wielands gewichtigen Alterswerken seien hier nur zwei herausgegriffen: der Roman «Aristipp und einige seiner Zeitgenossen» (1800–1802) und die Übersetzung der Cicero-Briefe (1808–1813).
«Aristipp» ist ein Briefroman von philosophischen, politischen, erotischen, psychologischen und ästhetischen Dimensionen. Wieland selbst hat ihn als die Krönung seines Werks betrachtet. Der Roman ist unvollendet geblieben. Er schildert als historische Fiktion das Leben des wenig bekannten Sokrates-Schülers Aristippos von Kyrene. In ihm spiegelt Wieland im Wesentlichen sein eigenes Denken.
Die faszinierendste Figur des Buches ist die schöne Hetäre Lais, die mit Aristipp in einer freien Beziehung verbunden ist. Sie ist der Entwurf einer unabhängigen weiblichen Existenz in einer Gesellschaft, in der solches nicht vorgesehen ist. Sie wird gelegentlich als eine der gelungensten positiven Frauengestalten der Weltliteratur bezeichnet. Wieland lässt sie am Ende scheitern, doch so, dass ihr Tod die Unmenschlichkeit der Gesellschaft offenlegt und nicht ihr Lebenskonzept desavouiert.
Mit der Übersetzung der Cicero-Briefe schultert Wieland im hohen Alter nochmals eine gewaltige Aufgabe. Ciceros Korrespondenz ist in grossem Umfang überliefert. Sie hat die europäische Briefkultur nachhaltig geprägt und verhandelt wesentliche Grundlagen der westlichen Zivilisation. In seiner Übertragung geht es Wieland nicht nur um eine genaue und adäquate Übertragung von Ciceros elegantem, konzisem Latein, sondern ebenso sehr um die minutiöse Recherche der Zusammenhänge und Bezüge, in denen die Texte zu verstehen sind. Das epochale Übersetzungswerk wird nach Wielands Tod schliesslich von anderer Hand zu Ende geführt.
Das Gut Ossmannstedt kann Wieland bald nach der Jahrhundertwende nicht mehr halten; er zieht wieder nach Weimar. Trotz äusserlichem Rückzug – er ist gesundheitlich angeschlagen, hat Mühe mit den Augen – kann von Resignation keine Rede sein. Zu bedeutend ist nach wie vor seine schriftstellerische und editorische Produktion.
Napoleon – und eine letzte wichtige Frau
Wieland bleibt, auch wenn er nicht mehr wie zuvor im Mittelpunkt der Literaturszene steht, eine gefragte Berühmtheit. Als Napoleon 1808 in Weimar auftaucht, will er den Dichter sehen und lässt ihn zum Hof bestellen. Wieland, der sich drücken will, wird von einer Kutsche abgeholt. Er langt ohne Perücke, ohne Degen, «in Tuchstiefeln», also in ungehöriger Weise underdressed, im Ballsaal des Schlosses an. Napoleon unterhält sich während anderthalb Stunden mit ihm, bis Wieland um Entlassung bittet, da er nicht länger stehen könne. Napoleon ist nachsichtig: «Allez donc, allez, bon soir.»
Ab 1806 tritt nochmals eine Frau in Wielands Leben – oder eher er in ihres. Es ist eine reine Briefbeziehung. Sie haben einander nie gesehen. Wieder ist Sophie von La Roche, diesmal wohl ungewollt, die Anbahnerin des Kontakts. Sie berichtet Wieland, ihre Freundin Elisabeth Solms-Laubach sei über eine lakonische Randnotiz Wielands in einem Buch der La Roche ganz entzückt gewesen. Dieser findet diese Reaktion der ihm Unbekannten so hinreissend, dass er Sophie von La Roche drängt, den Kontakt zu der Dame zu vermitteln.
Es entsteht eine Brieffreundschaft, die zumindest auf seiner Seite auch zur Brief-Verliebtheit tendiert. Er bittet nachdrücklich um «eine gute, das ist scharf und wahr gezeichnete Silhouette von Ihrer Durchlaucht». Das Gefälle zwischen der Adligen und ihm wird stets respektiert, und trotzdem entspannt sich der Ton der Korrespondenz. Sie perlt wie ein Geplauder beim Kaffee, als ein «Nachdenken ohne Endredaktion», wie Reemtsma meint. – Eine seltsame, aber glückliche Liaison, die bis zu Wielands Tod anhält.
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Was für ein Leben, was für ein Werk da vor uns liegt! Reemtsma hat Wieland mit seiner grossen Biographie nicht nur ein zeitgemässes Monument gesetzt. Er gibt auch tiefe Einblicke in aufklärerisches Denken sowie ins Leben und Werk eines intellektuellen Poeten. Das gewichtige Buch ordnet das schwer zu überschauende Material souverän und ist brillant geschrieben. Reemtsma versteht sich gleichermassen auf kräftiges Urteilen in literarhistorisch-philosophischen Belangen wie auf respektvolle Annäherung an die nie ganz zu durchschauenden Lebensvollzüge in Zeiten und Umständen, die uns etwas fremd bleiben müssen. Seine Wieland-Biographie ist höchst lehrreich und ein grosses Lesevergnügen.
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur. In Zusammenarbeit mit Fanny Esterházy, C. H. Beck 2023, 704 S.