«Dieser Wahlkampf ist zu Ende», erklärt Bob Beckel, ein Polit-Kommentator und Moderator auf CNN. «Es gibt kein Rennen um die Präsidentschaft mehr. Trump hat schon verloren.» Die «Los Angeles Times» schreibt, der republikanische Kandidat «ist tief verwundet». Robert de Niro bezeichnet Trump als «Dreckskerl, Hund, Schwein». Das war 2016, einen Monat vor den Wahlen.
Anlass war ein Audio, das die Washington Post kurz vor den Wahlen 2016 veröffentlichte und auf dem Trump rüde, frauenfeindliche Sprüche von sich gab. «Ich hab versucht, sie zu vögeln. Sie war verheiratet. Ich bin wie verrückt auf sie los, aber es klappte nicht. Dann hab ich sie wieder gesehen, sie hat diese grossen künstlichen Titten und so.» Und: «Wenn du ein Star bist, dann lassen sie dich. Du kannst alles machen. Ihnen an die Muschi fassen.»
Nach der Ausstrahlung des Audios sackten seine Umfragewerte ab. Prominente Republikaner forderten ihn zum Rücktritt auf – vier Wochen vor den Wahlen.
Nate Silver, der «Papst» der Meinungsforscher, prophezeite daraufhin Trump eine Siegeschance von nur 18,4 Prozent. Für Hillary Clinton errechnete er eine Chance von 81,4 Prozent.
Chef-Prophet
Nate (Nathan) Silver, als «Nathan der Weise» bekannt, ist nicht irgendwer. Der jetzt 46-Jährige ist der Gründer des Forschungsinstituts «FiveThirtyEight». Der Name seines Unternehmens bezieht sich auf die 538 Mitglieder, die das amerikanische Repräsentantenhaus zählt.
Nate Silver hatte sich zu einer Art Chef-Prophet entwickelt. Bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2008 sagte er das Ergebnis fast hundertprozentig richtig voraus. Nur in einem der 50 Bundesstaaten, in Indiana, täuschte er sich knapp.
2012 kam es noch besser. In allen 50 Staaten lag er richtig. Landesweit prognostizierte er 50,8 % für Obama. Der Präsident erhielt 50,5 %.
Das katapultierte ihn auf den Olymp der Meinungsforscher. Nate Silver rechnet nicht nur die Durchschnittswerte aller namhaften Umfragen voraus: In seine Modellrechnungen bezieht er Zehntausende weitere Daten ein.
Dann kam der Wahltag, der 8. November 2016. Um 02.14 Uhr (9. November, Schweizer Zeit) beginnen die ersten Ergebnisse der entscheidenden sieben Swing States einzutröpfeln. Die Stimme des CNN-Moderators John King wirkt immer lustloser. Trump gewinnt Pennsylvania, Michigan, Wisconsin, Nevada, Georgia, North Carolina. Das Rennen ist gelaufen. Trump kommt auf 304 Elektorenstimmen (Hillary Clinton auf 227).
Halb Amerika verfällt in eine Schockstarre: Nationale Fassungslosigkeit, Bestürzung, Konsternation. Journal 21 veröffentlichte am Wahlmorgen ein Bild, das eine junge Demokratin zeigt. Sie verfolgt auf einem Grossbildschirm im Jacob K. Javits Convention Center in New York den sich abzeichnenden Sieg von Donald Trump. Ein Bild, das alles sagt.
Nate Silver steht vor der grössten Blamage seiner Karriere. Doch auch die meisten anderen Meinungsforschungsinstitute hatten einen klaren Sieg von Hillary Clinton prophezeit. Nate Silver sprach von einem «big mistake». Er werde seine Modellrechnungen korrigieren.
Und jetzt?
Wiederholt sich das Desaster der Meinungsforscher? Rufen sie wieder einen falschen Sieger aus? Gewinnt Trump dann am Ende dennoch?
Nach dem Rücktritt von Joe Biden befinden sich die Demokraten in einer euphorischen Aufbruchstimmung. Kamala Harris klettert in den Umfragen hoch. Landesweit liegt sie (Stand Samstag) 3,6 Prozent vor Trump.
Auch in den entscheidenden Swing States macht sie langsam aber stetig Boden gut. In Pennsylvania (Harris +1,8%, Stand Sonntag), Michigan (+3,4%), Wisconsin (+3,8%), Nevada (+0,6%) und North Carolina (+0,1%) liegt sie knapp vorn, zum Teil sehr knapp. Der grossartig inszenierte Parteitag der Demokraten in Chicago hat ihr einen weiteren «Boost» gegeben.
Unter tosendem Beifall rief Michelle Obama in die Arena: «Hope is making a comeback.» Die Demokraten hoffen, dass Harris noch lange von diesem «Momentum» profitieren wird und dass die Euphorie, die am Parteitag ausbrach, sie noch einige Wochen lang weiter nach oben treibt. (Siehe auch: Ignaz Staub: Chicagos demokrjatisches Love-in)
«Kollektiver Orgasmus»
Viele in Amerika wurden von einer fast hysterischen Freude erfasst, als plötzlich klar wurde, dass Trump nun doch geschlagen werden könnte. Schon hatte man sich mit vier weiteren quälenden, bleiernen Trump-Jahren abgefunden, und da kam Kamala Harris. Auch die liberalen Medien gerieten in diesen Sog dieses Kamala-Rausches. Der Analyst Freddy deBoer spricht von einem «kollektiven Orgasmus», dem die Redaktion der New York Times verfallen sei.
Diese Aufbruchstimmung steht in scharfem Kontrast zur Miesmacherei, die das Trump-Lager verbreitet. Immer mehr Amerikaner, so sagen nicht nur demokratische Parteistrategen, haben genug von den Lügen, den Fake News, den Beschimpfungen, dem Egozentrismus («Ich», «ich», «ich») und den Schmähungen des früheren Präsidenten. Während der demokratische Parteitag in Chicago einem Freudenfest mit 20’000 entfesselten Demokraten glich, wirkte der im Juli abgehaltene Parteitag der Republikaner in Milwaukee wie eine Beerdigungszeremonie, an der einige hasserfüllte, schlechtgelaunte Redner auftraten.
Nate Silver gilt trotz des Debakels vor acht Jahren noch immer als einflussreichster Wahlforscher. Er errechnet jetzt, dass Kamala Harris zur Zeit eine Chance von über 53 Prozent hat, gewählt zu werden (Trump 46 Prozent). Joe Biden hatte er nur eine Chance von 28 Prozent gegeben.
Hat man vergessen, was vor acht Jahren geschah? Zehn Wochen vor den Wahlen ist festzuhalten:
- Der landesweite Vorsprung von Harris (3,6 Prozent) ist zwar beachtlich, aber dennoch bescheiden. Zudem wissen wir, dass nicht das landesweite Total zählt, sondern die Ergebnisse in den Swing States.
- Der teils sehr knappe Vorsprung in den Swing States liegt (bisher?) überall innerhalb der statistischen Fehlermarge.
- Umfragen zeigen, dass Kamala Harris in weiten Teilen des Landes noch immer eine Unbekannte ist.
- Donald Trump hat in zwei aufeinanderfolgenden Präsidentschaftswahlen deutlich besser abgeschnitten als in den Umfragen.
- Trump hat noch einige Pfeile im Köcher. Inhaltlich kann er Harris einiges vorwerfen: dass ihre Vizepräsidentschaft blass war, dass die Inflation unter dem Tandem Biden/Harris stieg, dass die aus Süden kommende Migration stark zunahm.
- Trumps Kampagne argumentiert, Harris könne nicht glaubwürdig behaupten, einen Neuanfang zu bieten, da sie bereits seit mehr als drei Jahren Vizepräsidentin ist.
- Nach jedem Parteitag profitieren die Kandidaten von einem mehr oder weniger grossen Hype. Dieser verblasst dann jeweils innerhalb der kommenden Wochen.
- Unklar ist auch, wie weit – und ob überhaupt – die Beliebtheit des demokratischen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft, Tim Walz, und die Unbeliebtheit des Republikaners JD Vance eine Rolle spielen wird.
- Die New York Times, die wichtigste Zeitung in den USA, ist vorsichtig. Sie wagt (noch?) nicht, eine Prognose zu stellen.
Trotz des Jubels in Chicago weiss Harris, dass die nächsten Wochen kein Spaziergang sein werden. «Wir wissen, dass wir Aussenseiter sind und dass es hart auf hart kommen wird», sagte Harris einigen Anhängern, die sie nach ihrer Rede auf dem Parteitag besuchten.
Hoffnung auf ein nicht-trumpsches Amerika
Dennoch: Auch wenn allergrösste Vorsicht mit einer Prognose am Platz ist: Harris hat durchaus eine Chance zu gewinnen – dies trotz aller Mahnungen.
Ihr gelang es, Bevölkerungsgruppen ins Boot zu holen, die für die Demokraten schon verloren schienen: Die Jungen, die Schwarzen, die Frauen und viele hispanische Wähler und Wählerinnen. Besonders bei den Jungen zeichnet sich ein Harris-Fieber ab. Auch die Arbeiter im Rostgürtel tendieren wieder mehr zu den Demokraten. Andererseits zeigen sich die Pro-Palästinenser von ihr enttäuscht.
Analytiker und detaillierte Umfragen weisen darauf hin, dass es der 59-jährigen Vizepräsidentin gelungen ist, mit ihrer fröhlichen, unverkrampften, aufrichtigen Art in weiten Gesellschaftsschichten zu punkten und neue Hoffnung auf ein offenes, nicht-trumpsches Amerika zu verbreiten. Make America great again, aber bitte ohne Trump.
Harris wird beliebter
In den von Umfrageinstituten berechneten Beliebtheitskurven hat Kamala Harris landesweit stark zugelegt, wenn sie auch zur Zeit noch immer im roten Bereich liegt. Am 9. Juli hatten 53,7 Prozent der Befragten eine «unfavorable» Meinung von Harris und 36,2 Prozent eine «favorable» Meinung (+ 17,5 «unfavorable»). Jetzt haben 47,1 Prozent eine unfavorable Meinung von ihr und 45,2 eine favorable (+ 1,9 «unfavorable»). Während also Harris beliebter wird, sind die Werte für Donald Trump konstant sehr negativ (zur Zeit + 9,7 Prozent «unfavorable»). Solche landesweiten Erhebungen sind eigentlich wenig aussagekräftig, da die Wahlen in den Swing States entschieden werden. Dennoch geben sie ein Bild für die Stimmung im Land ab. Es ist anzunehmen, dass ihre Beliebtheitskurve in den nächsten Tagen weiter steigt.
Jetzt, nach den Parteitagen, hat der «final sprint» (CNN) begonnen. Noch sind es zehn Wochen bis zur Wahl. Da kann noch viel geschehen. Noch befindet sich Trump in einer Art Schockstarre, noch hat er kein Rezept gefunden, um Harris Aufschwung zu bremsen. Er wirkt griesgrämig, seine Medienauftritte sind oft wirr, verfahren. Seine Angriffe auf Harris («sie ist eine Marxistin», «sie hat einen sehr niedrigen IQ», «sie ist eine verfluchte Linke»; er nennt sie jetzt «Genossin Harris», ihren Vornamen spricht er bewusst immer falsch aus) zeigen, wie hilflos er ist. Er ist offensichtlich aus dem Tritt geraten. Doch das kann sich noch ändern. Trump gilt als gewiefter Wahlkämpfer.
Der 10. September
Mitentscheidend kann das Fernsehduell am 10. September werden. Würde dann Kamala Harris eine schlechte Figur abgeben, könnte sie die kleine Marge, über die sie jetzt verfügt, schnell verlieren. Demokraten sind jedoch zuversichtlich. Sie bezeichnen die einstige kalifornische Generalstaatsanwältin als harte, angriffige, gut dokumentierte Debattiererin, an der sich Trump die Zähne ausbeissen könnte. Sie habe einige Schwerverbrecher zur Strecke gebracht, erklären Demokraten. Sie werde auch Trump zur Strecke bringen. In Interviews, die sie vor ihrer Nominierung gab, wirkte sie allerdings oft wenig souverän.
Um Inhalte ging es am Parteitag in Chicago nicht. Harris liess sich nicht festlegen, was sicher klug war. Es ging um die Show, um Emotionen. An einer Jubelfeier soll gejubelt werden. Da ist kein Platz, um Probleme anzusprechen. Beim Fernsehduell könnte es dann um Inhalte gehen. Wird da Harris bestehen können? Harris werde sich «dem 10. September mit der Sorgfalt einer Prozessanwältin nähern, die sie einst war» schreibt CNN.
Kennedys Rückzug – kaum Auswirkungen
Und wie wirkt sich der Rückzug von Robert F. Kennedy Jr. auf die Wahlen aus? Er vereinte bisher gut 4 Prozent der Stimmen auf sich. Wird die Mehrheit seiner Anhänger und Anhängerinnen zu Harris oder Trump abwandern? Kennedy war am Freitag an der Seite von Trump an einem Meeting bei Glendale (Arizona) aufgetreten. Die beiden begrüssten sich herzlich. Das nährt wieder Spekulationen, wonach Trump Kennedy ein Regierungsamt verspricht, wenn er seine Anhänger aufruft, den Ex-Präsidenten zu wählen.
Es sei «unklar, welche Auswirkungen – wenn überhaupt – Kennedys Unterstützung für Trump haben wird», schreibt die New York Times. Nate Silver stellte nach dem «Aussetzen» der Kandidatur von Robert F. Kennedy Jr. ein neue Modellrechnung auf. Danach gewinnt Harris 0,8 Prozent dazu, während Trump um 1,1 Prozent zulegt.
Doch Harris habe den Wind in den Segeln, im Gegensatz zu Trump. «Wir gehen davon aus», schreibt Silver, «dass sich der Vorsprung von Harris weiter vergrössern wird, zumal fast keine der Umfragen nach ihrer starken Dankesrede am Donnerstag durchgeführt wurde.» Kennedy, ein Neffe von John F. Kennedy, gilt als unberechenbares, dem Rechtsextremismus zuneigendes schwarzes Schaf in der Familie.
Die Flitterwochen dauern länger
Auch das Trump-Lager rechnet mit einem weiteren Aufschwung von Harris. In einem Memo der Trump-Meinungsforscher Tony Fabrizio und Travis Tunis, das CNN vorliegt, heisst es: «Nach dem Parteitag werden wir wahrscheinlich einen weiteren kleinen (wenn auch vorübergehenden) Aufschwung für Harris in den öffentlichen Umfragen sehen. Post-Convention Bounces sind ein Phänomen, das nach den meisten Parteitagen auftritt. Seien Sie also nicht überrascht, wenn Harris vorübergehend um 2 bis 3 Punkte zulegt.» Die Trump-Meinungsforscher gehen davon aus, dass «die Flitterwochen für Harris» länger andauern als zunächst prophezeit.
Am Parteitag der Demokraten traten einige Republikaner auf, die Trump den Rücken kehrten und erklärten, sich für Harris stark zu machen. «He has no empathy, no morals and no fidelity to the truth», rief seine einstige Pressesprecherin Stephanie Grisham in den tobenden Saal. Wie viele Republikaner wenden sich von Trump ab? Niemand weiss es.
Und die vielleicht wichtigste Frage? Kann man nach dem Desaster vor acht Jahren Nate Silver und den anderen Meinungsforschern überhaupt noch trauen? Die Erfahrung zeigt, dass die Befragten immer häufiger lügen und die Meinungsforscher an der Nase herumführen. Schon vor acht Jahren getrauten sich viele der Befragten nicht, sich offen für den damals schon polternden, lügenden und verdriesslichen Trump auszusprechen – und stimmen dann doch für ihn.