Von inspirierender «Auswechslung der Ideen» spricht Urs Meier in seinem Journal21-Beitrag über den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Zu diesem Ideenaustausch zählt auch die Sage von Wilhelm Tell. Ein kleiner literarischer Nachklang.
Die grüne Welle ist nicht neu. Es gibt sie schon im 18. Jahrhundert. Die damalige Epoche verklärt die Alpen zum Ideal. Es ist die Zeit des deutschen «Philhelvetismus», der «Schweizbegeisterung». Fast wie von geheimer Stimme gerufen kommen sie alle, die deutschen Dichter und Denker des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Kaum ein Poet von Wert und Rang, der die obligate Schweizer Reise versäumt hätte: eine eigentliche Wallfahrt aus dem Norden in «das heilige Land der Freiheit und der grossen Natur». (1)
Auf der Suche nach einer tragfähigen Identität
Auch Goethe weilt dreimal in der Schweiz. (2) Und dreimal erklimmt er den St. Gotthard, diesen «helvetischen Sinai», wie der Schriftsteller Peter von Matt den Pass bezeichnet. Goethe kommt immer von Norden her, von Hospental. Und jedes Mal kehrt er wieder um und steigt hinunter ins Urserental und zurück in die Schöllenen. In dieser urgewaltigen Gotthardlandschaft und im Land Uri strömen ihm Motive und Szenen zu – für seinen Faust und die Tell-Idee.
Goethes drei Schweizer Reisen fallen alle in die vorrevolutionäre Zeit, in die letzten Jahrzehnte des Ancien Régime, erstmals 1775: Goethe ist 26 Jahre alt – schon berühmt und gefeiert als Dichter des Goetz von Berlichingen und vor allem des Werther. Er ist auf der Suche nach einer tragfähigen Identität, unterwegs mit der Frage: «Wer bin ich?» – in der Hoffnung nach der klärenden Distanz zur Romanze mit der 16-jährigen Patriziertochter Lili Schönemann. In «Dichtung und Wahrheit» findet diese Reise poetische Gestalt.
Zum zweiten Mal 1779: Jetzt befindet er sich auf einer Bildungsreise mit seinem jungen Dienstherrn, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar – innerlich bedrängt und gedrängt von der Frage: «Was soll ich als Minister in Weimar?» Er reist mitten in seiner Weimarer Lebenskrise, auch diesmal auf der Suche, nämlich der Emanzipation als Fürstendiener.
Hinauf zum «Vater Gotthard»
1797 kommt Goethe wieder in die Schweiz: Im Schatten der französischen Weltrevolution zieht es ihn zum dritten Mal auf den Gotthard, dieses damalige Wallfahrtsziel – zusammen mit seinem Kunstfreund Heinrich Meyer aus Stäfa am Zürichsee. Nun ist Goethe ein «Mann von funfzig Jahren». Und er ist ganz stolz, dass es ihm, dem Gealterten, noch immer gelingt, die Höhen dieses Passes zu erklimmen – und den Weg durch die steinig-raue Welt hinauf zum «Vater Gotthard» zu bezwingen, diesem «königlichen Gebirge», wie er ihn charakterisiert.
Durchs Reusstal erreicht Goethe auf dem Rückweg erneut die Tell-Gegend. Er weiss um die Sage, und er kennt die magere Uferwiese des Rütli, wo es einst zum Schwur gegen die Tyrannei gekommen sein soll. Er hat Halt gemacht bei der Kapelle, die an Tells Sprung in die Freiheit erinnert – metaphorisch gewissermassen ein Sprung aus dem Ancien Régime in die Moderne.
Die Fluren und Felsen, das Leuchten der Firne und das Grauen der Abgründe sind ihm bekannt – ebenso der Föhn, wie er den See aufpeitscht – und wie er auch lächelt, dieser See, und «zum Bade ladet». Hier im Land Uri war dem intimen Kenner der Schweizer Landschaft die Idee zu einer Tell-Dichtung gekommen. Kein Drama wie später bei Friedrich Schiller, sondern ein Epos. (3)
Kooperation von Goethe und Schiller
Nach seiner Rückkehr berichtet er Friedrich Schiller vom poetischen Stoff. Goethes Tell-Idee zündet bei Schiller. Noch vier Jahre aber hält Goethe seinen «Wilhelm Tell» zurück; erst 1801 überlässt er ihn seinem Dichterfreund. Selber hat Schiller die Gegend nie betreten, doch er trifft den Genius des Ortes dank dem exzellenten Informanten Goethe. Allerdings ist Tell bei Goethe noch ein Säumer; zum Schützen wird er erst durch Schiller. 1804 kommt es am Weimarer Hoftheater zur Premiere – Regie führt Goethe. Eine kongeniale Kooperation, auch wenn sich Schiller gegenüber Goethe immer «wie ein poetischer Lump» vorkommt. Wie sehr sich Goethe mit Tell identifiziert, zeigt sich an einer Notiz, einer nicht ganz uneitlen. Er schreibt: "Was in (Schillers Wilhelm Tell) von Schweizerlocalität ist, habe ich ihm alles erzählt." Ein bisschen Narzissmus muss sein! Schon damals!
125 Jahre Tellspiele in Altdorf
Zu Tells Lokalitäten zählt auch der Flecken Altdorf. «Der Ort selbst mit seinen Umgebungen erscheint im Gegensatz zu Schwyz; er ist stadtmässiger. Und alle Gärten sind mit Mauern umgeben. Ein italienisches Wesen scheint durch, auch in der Bauart.» So beschreibt Goethe den Urner Hauptort.
Hier in Altdorf spielt die Bevölkerung seit 1899 etwa alle drei bis vier Jahre Schillers «Wilhelm Tell». Auch heuer wieder. Erneut erwecken die Altdorfer Laienkünstler den Klassiker zum Leben. (4) 220 Jahre sind vergangen seit der umjubelten Uraufführung in Weimar. Und seit 125 Jahren gibt es die Altdorfer Tellspiele.
(1) Zuerst der Messias-Sänger Klopstock, dann die Rokokodichter Wieland und Ewald von Kleist, kurz darauf die Stürmer und Dränger, allen voran Goethe; manche Italienfahrer wie der berühmte Johann Heinrich Winckelmann. Es kommen die Philosophen Fichte und Hegel und der Dichter Hölderlin. Es folgen die Poeten aus dem romantischen Umkreis mit Heinrich von Kleist usf.
(2) Grundlagentext für die Zitationen: Margret Wyder, Barbara Naumann, Robert Steiger (2023), Goethes Schweizer Reisen. 2 Bde. Bd. I: Tagebücher, Bilder, Briefe. Basel: Schwabe Verlag.
(3) Rüdiger Safranski (2013), Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie. München: Carl Hanser Verlag, S. 429
(4) Die diesjährigen Tellspiele stehen unter der Regie von Annette Windlin. Sie dauern noch bis zum 19. Oktober 2024: https://www.tellspiele-altdorf.ch/tell24