Das Predigen kommt im allgemeinen Sprachverständnis am ehesten noch vor als Straf- oder Moralpredigt. Wer im Predigtton zu anderen spricht, gilt als anmassend, überheblich und autoritär. Mit diesem Vorverständnis oder Vorurteil hat es das Predigen heute zu tun, jedenfalls ausserhalb von Kirchenmauern und abseits kirchlich sozialisierter Kreise.
Phänomen Buchreligion
Ein kulturgeschichtlicher Blick auf das eigentümliche Phänomen der Kanzelrede legt allerdings ein anderes Verständnis nahe. Als Auslegung des Bibeltextes steht das Predigen nach reformiertem Verständnis im Zentrum des religiösen Kults. Die Bibel gilt als Heilige Schrift, weil sie den Glauben begründet und den Gläubigen, wie es der Reformator Zwingli ausdrückte, eine «Richtschnur» fürs Leben gibt.
Dazu aber muss die Bibel so verstanden werden können, dass sie im Denk- und Erfahrungshorizont der Adressaten Anschluss findet. Ein naives wortwörtliches Fürwahrhalten der alten Texte erfüllt diese Anforderung nicht. Anders die literarisch-historische Erschliessung der Bibel; sie kann einem lebendigen Anschluss immerhin das Terrain bereiten. Mit dem Glauben bekommt die Bibel aber nur dann etwas zu tun, wenn das Deuten in beide Richtungen geht: vom Erfahrungshintergrund zum Text und vom Text zum Selbst- und Weltverständnis des Lesers. Buchreligionen sind permanente wechselseitige Interpretationsveranstaltungen. Sie sind so lange lebendig, als sie zum zeitgemässen und lebensrelevanten Dialog mit ihren Grunddokumenten – den Heiligen Büchern – fähig sind.
Test für die Essenz der Reformierten
Wenn die Reformierten sich zur Auslobung eines Predigtpreises entschlossen und diesen 2014 erstmals vergeben haben, so lenken sie damit die Aufmerksamkeit auf die Essenz ihrer Konfession. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie das reformatorische Schriftprinzip, wonach die Bibel im Glauben allein massgebend sein soll, radikal umgesetzt hat: der reformierte Kult ist rationalisiert, das Sakramentale dient einzig dem Wort, Kirchen sind Hörsäle und die Pfarrer legitimieren sich durch ihre Fähigkeit zur Schriftdeutung.
Veranstalter des Predigtpreises ist der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK. Er setzte eine Jury für deutschsprachige und eine weitere für französische und italienische Predigten ein. Aus der Deutschschweiz wurden 181, aus der Romandie und der italienischen Schweiz 62 Wettbewerbsbeiträge eingereicht. Den Preis in der Deutschschweiz erhielt Caroline Schröder Field, Pfarrerin am Basler Münster. Die fünfzehn besten Predigten, davon fünf aus dem Französischen und Italienischen übersetzte, wurden jetzt im im TVZ Verlag unter dem Titel «Ausgesprochen reformiert – Predigten» publiziert.
Mit dem schmalen Bändchen wagt der SEK die Probe aufs Exempel, ob die reformierte Kirche noch funktioniert. Kann sie vor einem kritischen Lesepublikum den Test einer existenziell ansprechenden, lebensrelevanten Bibelinterpretation bestehen? Die Frage lässt sich nicht allgemein verbindlich, sondern nur individuell beantworten. Die folgenden Beobachtungen zu den publizierten Predigten erheben denn auch nicht den Anspruch, das Testresultat verbindlich festzulegen oder gar, wie einst Luther, an einer Kirchentür festzunageln.
Pastoraler Sound
Fast durchs Band fällt an den Predigten ein pastoraler Ton auf. Dieser klingt zwar nicht immer gleich, lässt sich aber stets der besonderen, nur im kirchlichen Rahmen denkbaren Rolle der Pfarrerin oder des Pfarrers zuordnen. Das eine Mal ist es ein didaktischer Sound, der die Hörerschaft fürsorglich bei der Hand nimmt in der ständigen Furcht, die offenbar für geistig wenig alert gehaltenen Menschen in den Kirchenbänken zu überfordern.
Dann wieder sind es vereinnahmende Floskeln, die den Hörenden unerfüllte Sehnsüchte, ein Leiden an der Leere des Lebens oder eine ruhelose Sinnsuche unterjubeln. Zwar wäre davon in einer Predigt durchaus zu reden, am besten in Form einer stimmigen Erzählung oder einfühlenden Schilderung. Bleibt es aber bei hingeblätterten Chiffren, so entsteht der Eindruck eines Schematismus, der den Menschen bloss die für die vorgestanzten Antworten passenden Bedürftigkeiten einredet.
Fehlende Zielstrebigkeit und Dynamik
Reden müssen vorwärts kommen: vom Einstieg über die Entfaltung des Themas zur Erörterung von Argumenten und Gründen bis zur deutlichen Markierung einer Position und schliesslich zur Darlegung der Konsequenzen. Zielstrebigkeit und Dynamik der Rede müssen die Hörenden so für den Inhalt einnehmen, sodass diese mitgehen und dabei stets wissen, auf welchem Abschnitt der Wegstrecke sie sich befinden.
Auch Predigten sind Reden, und so gilt denn für sie das gleiche. Doch vielen Kanzelreden fehlt der Zug nach vorn. Sie absolvieren Stationen, reihen Gedanken aneinander, erzählen oder paraphrasieren eine Geschichte, ohne auf ein klares Ziel hinzuführen. Wer solche Predigten hört, kann, wenn’s gutgeht, da und dort etwas entnehmen, wird aber kaum von einer entscheidenden Einsicht überzeugt oder gar ergriffen werden.
Frömmigkeit mit offenen Karten
Zwei der fünfzehn Predigten allerdings haben mich – hier ist der Wechsel zur Ich-Form fällig – gefesselt, ja begeistert. Die eine stammt von Ruedi Bertschi, einem evangelikal geprägten einstigen Missionar, der heute als Pfarrer im Thurgau tätig ist. Er spricht über Jesu Erzählung von zwei Betern im Tempel, dem selbstgerechten Pharisäer und dem sündenbewussten Zöllner. Ruedi Bertschi eröffnet mit der Ankündigung: «Ich will euch heute Morgen den Pharisäer so richtig lieb machen.» Das bürstet nicht nur die Geschichte gehörig gegen den gewohnten Strich, sondern ist erst recht aus dem Mund eines bibelfrommen Pfarrers eine dicke Überraschung.
Das Beste daran: Die Sympathiewerbung für den Pharisäer ist kein didaktischer Trick, sondern es ist dem Prediger vollkommen Ernst. Er spricht nämlich von sich selbst, von seiner Frömmigkeit, die ihn zu einem beeindruckenden christlichen Einsatz für die Ärmsten der Armen geführt hat. Und er spricht in grosser Aufrichtigkeit von der Krise dieser Frömmigkeit. Selbstkritische Haltung und intensive Befragung des Bibeltextes führen hier zu einem Aha-Erlebnis. Das ist so zwingend, dass der Prediger die Pointe am Ende sogar verstecken kann. Der aufmerksame Hörer findet sie selbst.
Poesie als Sprach- und Selbsterforschung
Auf ganz andere Art ragt die Predigt einer Schriftstellerin aus der Sammlung des Wettbewerbs heraus. Maja Peter spricht über die Schöpfungserzählungen der Genesis und das Gedicht «Licht» von Klaus Merz. Die Anfrage, im Offenen St. Jakob in Zürich zu predigen, habe sie mal wieder veranlasst, die Genesis zu lesen. «Meine erste Reaktion auf die Lektüre war Enttäuschung,» sagt sie zu Beginn. Sie geht in ihrer Predigt den Gründen der Enttäuschung nach und fragt: «Habe ich richtig gelesen?» Von diesem Punkt aus fängt sie an, den Genesis-Text auszuloten. Die vibrierenden Gedichtzeilen von Klaus Merz mit nur gerade zweiundzwanzig Wörtern stimulieren wie ein vorweg installiertes Kraftfeld das Vorwärtsschreiten der Predigt. Man wird angesprochen und kann sich dem Mitdenken nicht entziehen:
«Hätten Eva und Adam die Frucht der Erkenntnis nicht gegessen, wären wir frei von Hunger, Zwängen, Trauer, Ängsten, Zweifeln, ungestillten Sehnsüchten. Die Liebe und Gott wären immer in Reichweite. Was würden wir mit dieser Freiheit tun? Was würden Sie, liebe Zuhörer und Leserinnen, tun?»
Die Worte des Gedichts tauchen verbal nicht mehr auf, bleiben aber präsent. Ganz im Sinn der ersten Erzählung der Bibel mündet die literarische Predigt in eine Reflexion über die Sprache:
«Eine lebendige Sprache ist eine suchende Sprache, die Wörter hinterfragt und ihrem üblichen Gebrauch misstraut. Nur eine suchende Sprache kann sich an Unbeschreibliches herantasten. Göttliches ist unbeschreiblich.»
Es ist die Schriftstellerin, die diesem Band das Highlight aufsetzt. Maja Peter geht aus von der genauen, vielschichtigen und sensiblen Lektüre der biblischen Vorlage. Sie entwickelt daraus den zielsicheren Bau und die sorgfältige Ausarbeitung ihrer Rede. All das geschieht auf einem Niveau, das man sich als Vorbild für die Predigtpraxis der reformierten Kirche wünscht.
Ausgesprochen reformiert – Predigten, herausgegeben von Simon Butticaz, Line Dépraz, Gottfried Wilhelm Locher und Niklaus Peter, TVZ Verlag, Zürich 2014, 135 S., CHF 24.80