20’000 Tote könnte die Flut gefordert haben, die am Sonntag über einen Teil der libyschen Mittelmeerküste schwappte. Dies befürchtet Akram Abdul Aziz, der Bürgermeister der stark betroffenen Hafenstadt Derna.
Viele Leichen liegen noch unter den Trümmern. Der Strand von Derna ist mit Toten übersät, die vom Meer angeschwemmt werden. Auch Kinderspielzeug und Möbelstücke aus den zerstörten Häusern liegen am Strand.
Ibrahim Ozer, der stellvertretende Direktor des türkischen Roten Halbmonds erklärte, die Stadt Derna sehe aus wie nach einem «schrecklichen Erdbeben». Ein Viertel der Stadt, die 50’000 Einwohner zählte, wurde weggespült. Ibrahim Ozer war mit einem Hilfsteam aus der sechs Stunden entfernten Stadt Bengasi angereist und stand «vor einem Bild des Grauens».
Warnung vor Krankheiten
Insgesamt wurden etwa 20’000 Quadratkilometer Land überschwemmt. Das entspricht einem Gebiet, das fast halb so gross ist wie die Schweiz. Bisher wurden 6’000 Tote gezählt. Diese Zahl könnte sich nach Angaben von Hilfsorganisation verdoppeln oder verdreifachen. Hunderte Tote wurden bereits in Massengräbern beigesetzt.
Die Uno warnt vor dem Ausbruch von Krankheiten. Vor allem das verseuchte Trinkwasser könne schwerwiegende Folgen haben, erklärte ein Sprecher des «Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, Ocha». Auch in den überall herumliegenden Leichen können sich Krankheitserreger herausbilden.
Die 260-fache Regenmenge
Der Sturm, der am Sonntag über die libysche Mittelmeerküste fegte, brachte innerhalb von 24 Stunden 400 mm Regen. Normalerweise fallen im ganzen Monat September in dieser Region 1,5 mm. An nur einem einzigen Tag fiel also das 260-Fache des monatlichen Durchschnitts.
Augenzeugen erklären, die Flutwelle sei mit riesigem Getöse hereingebrochen und habe sich wie ein Luftangriff angehört. Bevor die Stadt von den Wassermassen verschlungen wurde, habe es einen lauten Knall gegeben.
Die Schulen als Notunterkünfte
Uno-Mitarbeiter sind zurzeit dabei, Lebensmittel in das Katastrophengebiet zu schaffen. Bereits sind Rettungsteams aus der Türkei, Ägypten und Katar vor Ort eingetroffen.
Viele Menschen aus den umliegenden Gebieten seien ins Katastrophengebiet gekommen und wollten helfen Doch den meisten fehle die Erfahrung und die Ausrüstung dazu, erklären Augenzeugen.
Der Schulunterricht wurde für zehn Tage ausgesetzt. Die Schulgebäude werden als Notunterkünfte bereitgestellt.
Vermeidbare Katastrophe
Experten betonen, dass die Katastrophe eigentlich vermeidbar gewesen wäre. Das Land befindet sich im Bürgerkrieg. Es fehlt überall an Geld, die Infrastrukturen werden kaum gewartet.
Zwei Dämme am Fluss Wadi Derna oberhalb der Stadt Derna befinden sich seit Jahren in einem schlechten Zustand. Immer wieder wurde gewarnt, dass sie brechen könnten. Das geschah nun, nachdem das Sturmtief «Daniel» riesige Wassermassen angeschwemmt hatte. Nach dem Bruch der Dämme wälzte sich das Wasser tsunamiartig auf die Stadt zu. Die Flut erreichte teilweise eine Höhe von fast drei Metern. Auch mehrere wichtige Brücken wurden zerstört, was die Hilfe jetzt zusätzlich erschwert.
Zweigeteiltes Land
Libyen ist seit 2014 ein zweigeteiltes Land mit zwei Regierungen. Das erschwert die Hilfsaktionen. In der Hauptstadt Tripolis regiert eine «Regierung der Nationalen Einheit» mit Abdulhamid Mohammed Dbeiba als international anerkanntem Premierminister. Sein Einflussgebiet erstreckt sich vor allem auf die historische westlibysche Region Tripolitanien.
Im Osten des Landes regiert eine «Gegen-Regierung» mit Fathi Ali Abdul Salam Baschagha als Ministerpräsident. Dort befindet sich auch das libysche Parlament. Die «Ost-Regierung» dominiert vor allem die historische ostlibysche Region «Cyernaica», in der die Stadt Derna liegt.
Es ist zu hoffen, erklären Helfer, dass die beiden stark verfeindeten Regierungen wenigstens für eine Zeit lang ihre Differenzen beilegen, um die Hilfsmassnahmen zu koordinieren.