Seit dem vergangenen Wochenende ist Alexei Nawalny, der bekannteste russische Oppositionelle, im Straflager 2 in Pokrow bei der Stadt Wladimir, rund hundert Kilometer östlich von Moskau, eingekerkert. Ein Moskauer Gericht hatte ihn zu zwei Jahren und acht Monaten Haft in dieser sogenannten Besserungskolonie verurteilt. Darin sollen die 800 Gefangenen einem besonders harten Regime unterzogen sein.
Russlands bekanntester Putin-Kritiker
Als Nawalny Mitte Januar aus Deutschland nach Moskau zurückkehrte, war er sofort verhaftet worden – weil er sich während seiner Abwesenheit nicht bei den Polizeibehörden gemeldet hatte, wozu er gemäss einem früheren Urteil verpflichtet gewesen wäre. Alle Welt weiss inzwischen, dass Nawalny im August als medizinischer Notfall nach Berlin ausgeflogen wurde. Er war in Sibirien an einem hochgefährlichen Nervengift erkrankt. Er war damit durch eine offenbar vom russischen Geheimdienst FSB kontaminierten Unterwäsche in Berührung gekommen. Nawalny hatte noch von Deutschland aus einen anonymen telefonischen Kontakt mit einem beteiligten FSB-Agenten aufgenommen, der die Operation prompt bestätigte.
Durch diese Aufsehen erregenden Vorgänge und die im Januar und Februar in zahlreichen Städten Russlands stattgefundenen Massendemonstrationen gegen seine Verhaftung ist der 44-jährige Nawalny unbestreitbar zum prominentesten Oppositionellen in Putins Reich geworden. Gleichzeitig intensivieren die vom Kreml kontrollierten Medien manipulierte Berichte und Behauptungen, in denen Nawalny die verschiedensten kriminellen oder vaterlandsfeindlichen Absichten und Verbindungen unterstellt werden. So wird er unter anderem faschistischer und rassistischer Neigungen und gleichzeitig als bezahlter Agent ausländischer Verschwörungen gegen Russland verdächtigt.
Sinnloser Protest-Aktivismus?
Solche Vorwürfe sind nicht neu. Sie zirkulieren im In- und Ausland im Zusammenhang mit Nawalnys politischen Aktivitäten, die er seit mehr als zwei Jahrzehnten betreibt. Immer wieder sorgten seine im Internet verbreiteten Videofilme mit verblüffenden Aufnahmen über die Korruption hoher Funktionäre für starke Aufmerksamkeit. Sein bisher letzter Enthüllungsfilm über «Putins Palast» am Schwarzen Meer ist weit über 100 Millionen Mal angeklickt worden.
Was erstaunt und irritiert bei der jetzt laufenden Propaganda-Kampagne gegen den Gulag-Häftling Nawalny, ist der Umstand, dass ausgerechnet auch Putin-kritische Stimmen in Russland bei dessen Diskreditierung mitmischen. So kritisiert der frühere Chef der liberalen Jabloko-Partei, Grigori Jawlinski, in einer längeren Erklärung im Internet die Aufrufe Nawalnys und seiner Mitstreiter zu Demonstrationen gegen dessen Verhaftung scharf als «sinnlosen Protest-Aktivismus». Zwar verurteilt auch Jawlinski das repressive Vorgehen des Putin-Regimes gegen die Nawalny-Anhänger, doch gleichzeitig wirft er diesen vor, sie versäumten es, eine demokratische Zukunft für Russland zu entwerfen. Ihr Aufstand führe «in den vergangenen Kommunismus oder in einen zukünftigen Faschismus». Und Nawalny sei der «potenzielle Anführer dieser neuen Unterdrückung». Jawlinski tituliert ihn als «Nitzscheaner» und als «nationalbolschewistisch».
Schützenhilfe für den Kreml
Im Kreml wird man sich die Hände reiben über dieser Diffamierungen des prominenten Putin-Kritikers – ausgerechnet von einer «liberalen» Stimme in der russischen Öffentlichkeit. Allerdings muss dabei hinzugefügt werden, dass dieser Stimme in Russland kein wesentliches Gewicht mehr zukommt. Auf Jawlinski und seine Jabloko-Partei hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einige Beobachter vor allem im Westen erhebliche Zukunftshoffnungen gesetzt. Doch diese Erwartungen sind nie eingelöst worden – zum einen, weil liberale Ideen in Russland wenig Verständnis finden, und zum andern, weil Jawlinski sich mit anderen Köpfen in der Partei, zu denen anfänglich auch Nawalny gehörte, notorisch zerstritt. Bei der letzten Duma-Wahl im Jahre 2016 brachte es Jabloko auf keinen einzigen Sitz mehr.
Möglicherweise ist deshalb bei der Breitseite, die Jawlinski in seiner jüngsten Erklärung gegen Nawalny abfeuert, eine gehörige Portion Neid gegen einen oppositionellen Konkurrenten mit im Spiel, für den in den letzten Wochen immerhin Hunderttausende von Bürgern von Wladiwostok bis Moskau demonstriert haben. Jedenfalls spricht es nicht für souveränes politisches Urteilsvermögen und menschliche Rücksichtnahme, wenn Jawlinski einen andern Oppositionellen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt derart heftig attackiert und denunziert, in dem dieser vom Putin-Regime in ein Straflager versenkt wird.
Was sagt Nawalny zur Krim-Annexion?
Dass die Anti-Nawalny-Tirade des früheren Jabloko-Chefs inzwischen mit spürbarer Genugtuung auch von Putin-Apologeten im Westen und in der Schweiz verbreitet wird, ist kaum überraschend. So zitiert der in Hamburg lebende linksalternative Publizist und Altkommunist Kai Ehlers auf seiner Webseite ausführlich Jawlinskis Vorwürfen und betont, es sei wichtig, solche Stimmen aus dem Putin-kritischen Lager in Russland auch im Westen zu verbreiten. Denn hier werde Nawalny weitherum als «russischer Oppositionsführer» stilisiert, was nicht der Realität entspreche. Niemand behauptet, eine Mehrheit der russischen Bevölkerung stehe hinter Nawalny. Aber dass er gegenwärtig bei weitem mehr Menschen in Russland zu mobilisieren vermag als alle andern Politiker ausserhalb des Putin-Umfeldes zusammengenommen, lässt sich im Ernst nicht bestreiten.
Gewiss ist es legitim, Nawalnys politisches Credo näher zu betrachten. Dabei fällt aber auf, dass seine Kritiker meistens auf einige Schlagworte von ihm zurückgreifen, die rund zehn Jahre zurückliegen. So wird ihm vorgeworfen, er habe die Menschen im Kaukasus als «Kakerlaken» beschimpft, die man vernichten müsse, weil sie Russland Schaden zufügten. Schaut man sich aber ein Video an, in dem er sich mit diesem Thema befasst, zeigt sich, dass er keinesfalls alle Leute im Kaukasus als Schädlinge bezeichnet. Vielmehr geht es ihm nur um einige dort beheimateten Familienclans, die mit korrupten Praktiken märchenhafte Reichtümer zusammenrafften.
Zumindest nicht eindeutig undemokratisch zu werten sind auch Nawalnys Äusserungen zur Annexion der Krim-Halbinsel durch das Putin-Regime im Jahre 2014. In einem Beitrag in der «New York Times» schrieb er dazu, Putin habe bewusst eine «nationalistische Aufwallung» inszeniert, um damit seine damals unpopulär gewordene Herrschaft zu retten. Er sprach sich für eine international beglaubigte Volksabstimmung unter der Krimbevölkerung über ihre Zugehörigkeit aus und kritisierte das von Putin inszenierte Referendum als undemokratisch.
Ljudmila Ulitzkaja über Nawalnys Entwicklung
Zum heutigen politischen Standort Nawalnys sagte Ljudmila Ulitzkaja, die bekannteste in Russland lebende Schriftstellerin, in einem Interview mit dem «Spiegel» im Februar, der Putin-Kritiker sei für sie früher wenig attraktiv gewesen. Er habe als russischer Nationalist angefangen, aber er habe sich inzwischen weiterentwickelt. Viele Menschen solidarisierten sich mit ihm, weil sie begriffen hätten, dass die Staatsmacht ihn umbringen wollte. Für eine Evolution im politischen Denken Nawalnys sprechen auch seine Äusserungen in einem langen «Spiegel»-Gespräch in Berlin im vergangenen Dezember. Er zeigte sich stark beeindruckt von der Solidarität und Hilfsbereitschaft dieses demokratischen Landes, die ihm nach seiner Vergiftung das Leben gerettet habe, und von der Persönlichkeit von Kanzlerin Merkel, die ihn im Krankenhaus besucht hatte.
Ein sicheres oder gar definitives Urteil über Nawalnys politisches Denken und seine Ziele ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Sein Mut, das autokratische Putin-Regime herauszufordern, dessen Willkür und korrupte Machenschaften einer breiten Öffentlichkeit vor Augen zu führen und dafür einen hohen persönlichen Preis zu zahlen, verdienen jedenfalls Respekt und Bewunderung. Zweifel an seinen Methoden und Plänen zu äussern muss möglich bleiben.
Aber wer Nawalny jetzt, wo er im Gulag-Straflager sitzt und sich nicht verteidigen kann, apodiktisch als Antidemokraten und totalitären Volksverführer anprangert, sollte sich zumindest bewusst sein, dass er damit der Diskreditierungskampagne der Kreml-Propagandisten geradewegs in die Hände arbeitet. Und obendrein dazu beiträgt, ganz im Sinne des Putin-Regimes davon abzulenken, dass die willkürliche Verurteilung dieses unbequemen Kritikers und deren absurde Begründung jedem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit Hohn spricht.