Die Oper ist nur nebenbei eine meteorologische Anstalt. Doch Kälte und Hitze, Wind und Wetter, Sturm und Flaute spielen auch da oft eine Rolle. Alles, was zur dramatischen Steigerung des Lebensgefühls beiträgt, gehört zur Kernkompetenz der Kunstgattung Oper. Darum gehören Donner und Blitz, Windmaschinen, Sturmglocken und Paukenwirbel zu den festen Requisiten einer Opernbühne.
Die empörte und sich aufbäumende Natur ist die unerlässliche äussere Begleiterscheinung seelischer Erschütterungen und innerer Katastrophen. Wir kennen dies beispielsweise aus Mozarts «Idomeneo», aus Verdis «Otello» oder aus Wagners «Der fliegende Holländer», um nicht zu reden von den vielen Barockopern, in denen die Erde bebt, der Himmel tobt und Menschen vor drohendem Unheil in Grotten und Felsenhöhlen Schutz und Rettung suchen.
In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts entsteht in England – gewiss stark von französischen Formen des Musiktheaters wie Lullys ernster «tragedie en musique» oder Molières vergnüglich-unterhaltsamen «comédies-ballets» beeinflusst – eine musikdramatische Gattung, die man als «semi-opera», also »Halb-Oper» bezeichnet. Im Prinzip handelt es sich um ein älteres Stück des Sprechtheaters, das man kürzt und anpasst und nun mit musikalischen Elementen wie Arien und Ensembles, mit Chören und Tanzeinlagen anreichert und neu ausstaffiert. So hat der «Orheus britannicus» namens Henry Purcell (1659–1695), mit Sicherheit Englands grösster Opernkomponist der Barockzeit, vor allem in seinen späteren Wirkungsjahren mehrere solcher Halb-Opern komponiert, in denen seine musikalische Phantasie ungewöhnlich bunt und einfallsreich aufblühen konnte.
«King Arthur» (1691)
Dieser König Arthur hat nicht mehr viel zu tun mit jenem legendären mittelalterlichen König Artus der ritterlichen Tafelrunde, den wir aus den Epen jener Zeit als den Gralshüter christlicher Traditionen kennen. Hier ist – nach einer Dichtung des englischen Barockautors John Dryden (1631–1700) – König Arthur der Anführer der christlichen Briten, die gegen die heidnischen Sachsen unter König Oswald um Herrschaft und Ehre kämpfen, beide unterstützt von antiken Göttern, Magiern, mythologischen Gestalten wie Luft- und Erdgeistern der guten und der bösen Sorte. Ein echtes Barockaufgebot also, in welchem auch eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte samt Entführung, glücklicher Wiedervereinigung und Heilung aller Gebrechen – hier ist es die blinde Prinzessin Emmeline aus Cornwall – nicht fehlen darf.
Man könnte also meinen: ein Unterhaltungsspektakel und eine Maskerade der Barockzeit mit sämtlichen Ingredienzen für das vergnügungssüchtige Publikum vergangener Zeiten. Als Nikolaus Harnoncourt zusammen mit dem Regisseur Jürgen Flimm im Jahr 2004 in der Felsenreitschule von Salzburg das Werk in einer so freien wie den Klamauk nicht scheuenden Fassung auf die Bühne brachte, meinte der grosse Dirigent, es handle sich bei diesem Werk um «das erste Musical der Geschichte». Ein so geschickter wie verrückter Mix von Ernst und Ulk, von Augen- und Ohrenzauber ist das Stück noch heute, sofern es gut in Szene gesetzt, gespielt und gesungen wird.
Die Theatermusik, die Purcell gerade für dieses Stück komponierte, gehört zum Erstaunlichsten, was diesem Notengenius aus London je einfiel. Die Quellenlage allerdings ist aus der Echtzeit von Purcells Leben ziemlich schlecht dokumentiert. Das führt dazu, dass wir heute im Zeitalter unserer barocken Opernrenaissance das Glück haben, das Werk in sich wandelnden Varianten auf der Bühne, in Aufzeichnungen und Einspielungen zu erleben. Die grossen Experten der Barockmusik – von Harnoncourt zu William Christie und John Eliot Gardiner – haben es nicht verpasst, je ihre Version dieses Kaleidoskops barocker Magie zu Gehör zu bringen.
Die «Frostszene»
Zu besonderer Beliebtheit im Reigen musikalischer Juwelen, die in jedem einzelnen der fünf Akte zu finden wären, hat es die sogenannte «Frostszene» aus dem 3. Akt des Werks gebracht. Sie ist so etwas wie eine Hymne auf die wärmende, ja alles zum Bessern verändernde Kraft der Liebe. Auch hier, so sagen die Experten, soll für Purcell der grosse Jean Baptiste Lully und dessen Oper «Isis» als Modell wegweisend gewesen sein. Allerdings ist dem Briten mit seiner musikalischen Behandlungsart von Stimme und Instrumentarium in der Darstellung der die Welt rettenden Liebeserfahrung etwas gelungen, das man als operngeschichtlich revolutionär und einmalig bezeichnen kann. Wenn es heute um Barockästhetik in der Musik geht, steht die «Frostszene» Purcells in der vordersten Reihe.
Cupido, der geflügelte Helfer und Zuträger der Liebesgöttin Venus steigt aus den himmlischen Sphären herunter auf die in Frost und Schnee daliegende britische Insel und ruft deren «Geist der Kälte» aus seiner Erstarrung und seiner Untätigkeit: «Awake, awake!» Er soll endlich aufwachen und den eisigen Winter aus seinem zottigen Fell schütteln. Wie bittere Kälte die Glieder lähmt und die Stimme zum Zittern und zum stockenden Stottern bringt, erleben wir nun in musikalisch bis anhin noch nie vernommener Art und Weise. Nur einen Wunsch hat dieser Kältegeist, der sich kaum zu bewegen und kaum zu atmen vermag: «Let me freeze again to death»: Er will nach dem Erwachen nur wieder in Kälte und Eis einschlafen und sich zu Tode freieren.
Doch Cupido gibt nicht auf. «Geschwätziger Alter, halt ein!», massregelt er ihn. Jetzt sei der Frühling angesagt. Mit der Sonne erwache auch die Liebe. Die Strahlen der Liebe würden eisige Fluren und eisige Herzen zum Schmelzen bringen. Der Kältegeist muss einsehen, dass die Liebe die älteste und mächtigste aller Gottheiten ist. Jetzt erwacht ein ganzer Chor von frierenden, bebenden, schnatternden Wesen zu neuem Leben. Schliesslich bricht ein regelrechter Jubelgesang aus: «’Tis Love that has warm’d us»: Die Liebe allein ist jene Macht, die uns zu wärmen vermochte. Man höre auf zu jammern und zu klagen. Sie sei geschaffen zu unserer Freude und unserer Lust, «and not for a pain»: und nicht, damit wir an ihr zu leiden haben.
Im Theater oder in der Kirche?
In diesem Werk begegnen wir in den gesprochenen Teilen immer wieder dem Kampf zwischen böswilligen Geistern, die es auf Macht, Krieg, Unterwerfung und Ausbeutung abgesehen haben, und den wohlwollenden Geistern, wie dem Zauberer Merlin, einigen Nymphen und Nixen, Schäfern und Schäferinnen, die in ihren «Maskeraden» uns zumal in den gesungenen Partien immer wieder daran erinnern, dass am Ende das Gute obsiegen wird. Neben der mytholgischen Dimension kennt das Stück auch eine religiöse und eine politische Botschaft, spätestens im Schlussakt, wo die Vertreter aller Stände und Wesen in einen Chor einstimmen zu Ehren des Inselbeschützers, des Heiligen Georg. Und selbstverständlich auch alles zum andauernden Ruhm des britischen Königtums.
So ist es gewiss nicht verkehrt, wenn heute Aufführungen dieses Werkes manchmal sogar in Kirchen und Kathedralen stattfinden, auch wenn die erotische Freizügigkeit mancher Szenen in einem Kirchenraum gewagt erscheinen mag. Im hier ausgewählten Beispiel handelt es sich um eine halbszenische Live-Produktion der Henry Purcell Society of Boston, die im November 2016 in der Cathedral Church of St. Paul in Boston MA realisiert wurde. Den Kältegeist singt der Bariton David Kravitz, als Cupido hören wir die bezaubernde Stimme der jungen Sopranistin Sarah Yanovitch-Vitale. Dirigent, Instrumentalisten und Sänger sind stupend in Form für dieses Kältespektakel der Sonderklasse.