Alberne Frage. Alberne Frage? – Haben Sie sich nicht schon einmal vorgestellt, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird, also dann, wenn Sie tot sind? Für diese Vorstellung versetzen Sie sich in eine Perspektive „ausserhalb“ der Welt, deren Teil Sie jetzt noch sind. Sie schauen quasi mit einem „Gottesauge“ auf sie.
Ich denke jetzt nicht an irgendein Leben nach dem Tode oder meine auch nicht, dass Sie sich als Verstorbener der Gunst eines „engelhaften“ Wahrnehmungsvermögens erfreuen, das Ihnen einen solchen Blick gestatten würde. Ich meine vielmehr einen Grenzpunkt, der so weit wie denkbar möglich von allen Standpunkten, die wir aus unserem gewöhnlichen Leben kennen, „wegzoomt“. Der letzte Aussenposten, der einen Blick auf uns erlaubt, ist jener der Nichtexistenz, zumal des Todes. Diesen Aussenposten erreichen wir im Leben nie, aber wir können ihn uns denken. Und sobald wir ihn denken, ist unser Leben ein anderes.
Der Blick von nirgendwo
Einer der bedeutendsten noch lebenden Philosophen, Thomas Nagel, hat diesen Standpunkt „Blick von nirgendwo“ genannt und vor über dreissig Jahren ein faszinierendes Buch (1986) – ein Meisterwerk – darüber geschrieben. Es verhandelt eine Schlüsselfrage unseres Lebens, nämlich die nach dem Verhältnis unseres notwendig subjektiven Weltzugangs zum objektiven Verständnis, wie wir es am ausgeprägtesten in den Wissenschaften vorfinden.
„Notwendig subjektiv“ heisst, dass ich als leibliche, lebende Person stets irgendwo und irgendwann in der Welt bin und dass ich von diesem In-der-Welt-sein letztlich nicht abstrahieren kann. Ich kann zwar die Frage stellen, wie es ist, tot zu sein, aber diese Frage wird ja immer gestellt von einem nicht-toten Menschen, der zufällig ich oder du oder sie sein kann, irgendwo und irgendwann.
Viele von uns haben diese oft verstörende Kollision von subjektiver und objektiver Sicht schon erlebt. Zum Beispiel finden wir alte Fotos, auf denen wir uns zunächst nicht wiedererkennen. Wir sehen aus scheinbar unbeteiligter Perspektive eine Person in irgendeiner Szene irgendwo, bis wir überrascht, vielleicht auch aufgeschreckt feststellen: Diese Person bin ja ich, E. K.!
Das grosse existenzielle Paradoxon
Nagel attestiert dem Blick von nirgendwo durchaus einen „religiösen Impetus“. Religion sucht ja – wie der objektive Blick der Wissenschaft – eine Antwort mit Bezug auf eine Aussenposition zur Welt: „Eine religiöse Lösung des Problems (nicht der Mittelpunkt der Welt zu sein, Anm. E. K.) verleiht dem Menschen durch seine Beziehung zu den Zwecken eines höchsten Wesens eine Art erborgter Zentralität.“
Diese Zentralität mag die Spannung zwischen Innen- und Aussenansicht lindern und erträglicher machen. Aber dennoch: Der Widerspruch bleibt, und Leben heisst, diesem Widerspruch der beiden Perspektiven nicht entgehen können. Er hat die Brisanz eines existenziellen Paradoxons: Ich muss in der Welt existieren, um den Gedanken fassen zu können, dass sie auch ohne mich existiert. Das bringt mein Leben immer wieder aus dem Gleichgewicht; als ob sich der existenzielle Schwerpunkt in mir nach oben schöbe.
Jede Person ein metaphysischer Skandal
In der ersten, subjektiven Perspektive bin ich – die Person E. K. – das Zentrum der Welt; in der zweiten, objektiven, bin ich ein infinitesimales Stäubchen im Universum – ein Nahezu-Nichts. Mein persönliches Leben wird dadurch zum metaphysischen Skandal, gerade weil ich beide Perspektiven verkörpere. Ich bin einzigartig und ich bin – nichtsartig.
Aus dem rivalisierenden Wechselspiel beider Perspektiven erwächst ja ein Grossteil unserer Selbsterkenntnis. Ich kann selbstverständlich versuchen, die zweite Perspektive möglichst an den Rand zu drängen, also die Welt nur aus je meiner Sicht zu sehen – das tun bekanntlich nicht wenige –, aber je mehr mir dies „gelingt“, desto mehr versinke ich in Egozentrismus, Narzissmus und Soziopathie; und gegen Solipsismus – den „Ich-allein-existiere-Standpunkt“ – hilft kein Argument, nur die Kur, wie Schopenhauer treffend sagte.
Das „Ethos der Objektivität“
Einstein beschrieb einmal den Weg zur Wissenschaft als eine pronominale Verschiebung: Von „ich“ und „wir“ zu „es“ – also vom persönlichen Standpunkt innerhalb der Welt zum unpersönlichen Standpunkt ausserhalb. Das entspricht dem wegzoomenden „Blick von nirgendwo“.
Darin liegt nun allerdings die Gefahr des anderen Extrems, des radikalen Objektivismus. Er wird vor allem von Wissenschaftern vertreten. Der moderne Locus classicus ist das viel gelesene „Zufall und Notwendigkeit“ (1970) des Molekularbiologen Jacques Monod. Er hatte in diesem schmalen Buch sogar ein „Ethos“ der Objektivität gefordert, das uns zu einem externen Standpunkt verpflichte. Hier wird uns allerdings eine beträchtliche Anstrengung an Selbstüberwindung zugemutet: „Wenn er die Botschaft (der Molekularbiologie, Anm. E. K.) in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muss der Mensch (...) seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiss, dass er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“
Monod formuliert hier den Grundwiderspruch der Wissenschaft vom Leben: Sie will Leben auf der Basis toter Materie erklären. Sie beginnt bei den leblosen Grundbausteinen der Materie, entdeckt die Prinzipien ihrer Wechselwirkung, sieht, wie dank solcher Wechselwirkungen sich immer komplexere selbstorganisierende und -erhaltende Systeme aufbauen, aber sie erklärt nicht, wie Leben daraus „emergiert“ – jedenfall nicht das, was wir gemeinhin „Leben“ nennen. Dieses Ungenügen ist in das Vorhaben einer Wissenschaft vom Leben a priori eingebaut. Sie versteht die physischen Vorgänge des Lebens, aber nicht das Leben. Und warum? Weil sie auf einer „Ontologie des Todes“ gründet.
Ontologie des Todes
Den Ausdruck hat der Philosoph Hans Jonas in seinem Buch „Organismus und Freiheit“ (1972) geprägt, um das fundamentale philosophische (nicht: wissenschaftliche!) Defizit der Biologie zu benennen. Die Frage der Wissenschaft lautet: Wie entsteht Leben aus leblosem Stoff? Jonas kehrt sie um: Wie kann man auf das Konzept des leblosen Stoffs kommen, wenn man von lebendigen Körper des Menschen ausgeht? Antwort: Indem man von diesem Körper fortgesetzt Eigenschaften „subtrahiert“, die ihn als lebendig und geistig charakterisieren. Dieser subtrahierende oder abstrahierende Prozess ist der Grundimpetus der modernen Wissenschaft vom Leben, die aufgrund eines solchen internen Erkenntnisschubs auch nicht zum Leben, sondern zum Tod als Grundlage allen Lebens vorstösst.
Ausgerechnet in seinem Todesjahr 1976 schrieb der „platonische“ Physiker Werner Heisenberg einen kleinen Essay über die „Reise der Wissenschaft in die Abstraktion“. Diese Reise können wir jetzt unschwer auch als Weg zum Blick von nirgendwo deuten. In den abstrakten Höhenfirnen, so Heisenberg, warte dem Wissenschafter ein besonderes Ende: „Am Ziel der Reise ist nicht mehr Leben und nicht mehr Welt zu finden, wohl aber Verständnis und Klarheit im Hinblick auf die Ideen, nach denen die Welt konstruiert ist.“ Wenn das kein Trost ist...
Der „schreiende Widerspruch“ im objektiven Weltbild
Nun lässt sich freilich ein extremer Objektivismus ebensowenig stringent aufrechterhalten wie sein subjektiver Gegenpart. Erwin Schrödinger, neben Heisenberg eine andere Physik-Koryphäe des 20. Jahrhunderts, hatte das ganz klar erkannt. In seinem Büchlein (der Diminutiv bezieht sich auf den Umfang, nicht den Inhalt) „Geist und Materie“ (1959) weist er auf einen „schreienden Widerspruch“ im Weltbild der Naturwissenschaften hin:
„Ohne es uns ganz klarzumachen und ohne dabei immer ganz streng folgerichtig zu sein, schliessen wir das ‚Subjekt der Erkenntnis’ aus aus dem Bereich dessen, was wir an der Natur verstehen wollen. Wir treten mit unserer Person zurück in die Rolle eines Zuschauers, der nicht zur Welt gehört, welch letztere eben dadurch zu einer ‚objektiven’ Welt wird (...).“
Das Subjekt der Naturwissenschaften konstruiert sich ein objektives Weltbild und radiert sich selbst darin aus.
Der lebendige Körper als Memento
Aber wie objektiv – selbstdistanziert und selbstentfremdet – ich mir auch gegenüberstehen mag, es ist immer die Person E. K., die sich auf diese Weise begegnet. Meine Subjektivität ist und bleibt der Ankergrund in der Welt. Und diese Subjektivität ist unkündbar körperlich, auf meinen Körper bezogen. Mein Ich ist ein leibliches Ich. Deshalb schürzt der Tod dieses leiblichen Ichs den Problemknoten von Innen- und Aussenansicht des Lebens – das, was Heidegger „Sein zum Tode“ nannte.
Der Mensch stirbt, das Tier stirbt nicht, es lebt ab. Der Mensch kann sterben, gerade weil er den externen Blick kennt. Man kann das als Gnade oder Fluch ansehen. Jedenfalls ist Sterben ein Vermögen. Mit Hans Jonas’ Worten: „Der lebendige und sterbenkönnende, der welt-habende und selber als Stück zur Welt gehörige, fühlbare und fühlende Körper (...) – er ist das Memento der immer noch ungelösten Frage der Ontologie, was das Sein ist.“
„Wie ist es, tot zu sein?“ ist eine Version dieser Frage. Und es gibt keine Antwort darauf. Aber so paradox es klingt, wenn man die Frage einmal zulässt, ist man lebendiger als je zuvor. Die Frage stülpt unser Leben von einem Augenblick zum andern um. Ohne zu glauben, sind wir religiös geworden.